Fotografische Spurensuche
Herlinde Koelbl zeigt in Berlin ihre erste Werkschau mit rund 450 Fotografien, Videoarbeiten und Filmen.
Berlin. Manche Fotografien schreiben sich ein ins so genannte kollektive Gedächtnis - jeder hat sie schon gesehen. Zu solchen Bildern zählt das Porträt der Schriftstellerin Grete Weil: die Schwarz-Weiß-Fotografie des Blicks einer betagten Dame, deren Augen Wachheit und deren Aussehen klare Würde vermitteln - der Blick aber kommt von unten und symbolisiert Verletzlichkeit. Als stelle die Fotografierte eine entschlossene Frage, die noch die Fotografin als Gegenüber im Bild spürbar macht, so sehr manifestiert sich hier die Konzentration auf eine Beziehung, die weit vor dem Schuss liegt, vor dem Abdrücken und dem Klickgeräusch des Auslösers.
Fünf Jahre hat Koelbl an dem Zyklus jüdischer Porträts gearbeitet, zu dem das Weil-Foto gehört. "Ein Markstein für mein persönliches Leben," bekennt sie. "Die Menschen ließen mich an ihrem Leben Teil haben. Sie hatten alle ihre Familie verloren und allen Grund zu hassen, aber sie taten es nicht. Damit haben sie sich selbst und uns etwas Gutes getan."
Diese Worte verraten Entscheidendes über die Arbeitsweise Koelbls und ihre Auffassung von Fotografie: Die Technik des Fotografierens ist nachrangig. Die eigentliche Arbeit wird vom Interesse vor allem an Menschen angetrieben. Und an bestimmten Themen. Koelbl liest und recherchiert gründlich, bis ein Thema seinen Reichtum entfaltet.
Folgerichtig schreitet die Ausstellung das Werk in vierzehn Themenkreisen ab, darunter die Kinderporträts ab den Mittsiebzigerjahren, die lustvollen Fotografien der Leiblichkeit der Achtziger und Neunziger, denen auch das schalkhafte Porträt der rubens-haften Aicha entstammt, das als Ausstellungsplakat fungiert, oder die vom Philosophen René Girard inspirierten blutigen Bilder der Serie "Opfer".
1976 bekam sie von einem Freund eine Kamera geschenkt und setzte von vornherein aller Logik des Kunstmarktes zum Trotz immer ihren eigenen Maßstab, weshalb sie schnell zur eigenen künstlerischen Handschrift fand. Und zu Erfolg gelangte. Koelbls Fotografie hat viel mit Nachdenken und Einlassen auf das Gegenüber zu tun. Es sind Arbeiten von beeindruckender Intensität, erzählerische Momentaufnahmen, in denen Vergangenheit, fotografierte Gegenwart erfahrbar und ein Spähen durch eine Mauerritze in die Zukunft möglich sind.
Für Koelbls geradlinige künstlerische Auffassung und Handschrift stehen bekannte Reihen: die frühe Serie "Das deutsche Wohnzimmer" oder die Langzeitarbeit "Spuren der Macht", die gestische und physiognomische Veränderungen bei Gerhard Schröder, Angela Merkel und Joschka Fischer über Jahre nachzeichnet.
Der Anspruch dieser ersten umfassenden Werkschau Koelbls überhaupt ist, das Werden und künstlerische Spektrum der 69-Jährigen zu präsentieren. Daher sieht man im Gropius-Bau nicht allein Bekanntes, sondern auch bisher in der Öffentlichkeit weniger oder nicht Wahrgenommenes: die Amerikareise, die abstrakten Fotografien der Künstlerin, fünf filmische Werke - 2003 drehte sie den Dokumentarfilm "Rausch und Ruhm" über den Absturz des Jungautors Benjamin von Stuckrad-Barre - und Videoinstallationen: für "Goldmund" etwa befragte sie Menschen über die psychologische Wirkung, die das Wort Geld bei ihnen auslöse.
Woher der Mut, sich auf Techniken abseits der Fotografie einzulassen? Verschmitztes Lachen der zarten und selbstbewussten Person, und erneut der Rekurs auf die jüdischen Porträtierten: "Sie waren so jung geblieben. Vorbilder, nicht in geistige Trägheit zu verfallen. Daher gehe ich immer wieder an Dinge, die ich noch nicht kann."