Ruhrtriennale Luc Parcevals Zola-Trilogie: Hunger treibt es auf die Spitze

Regisseur Perceval schließt seine Zola-Trilogie ab. Der Ruhrtriennale und ihm ist über drei Jahre ein monumentales Theaterereignis gelungen.

Foto: Armin Smailovic

Duisburg. Elf Stunden, drei Pausen: Was für Bergarbeiter im 19. Jahrhundert wohl nur eine Schicht unter anderen war, bringt Theatergänger von heute an körperliche Grenzen. Elf Stunden, drei Pausen — so lange braucht Luc Perceval, um die „Trilogie meiner Familie“ in der gigantischen Gießhalle im Landschaftspark Duisburg zu erzählen. Am 15. und 17. September haben Zuschauer noch einmal Gelegenheit, tief einzufahren in die sozialen Verhältnisse einer Zeit, von der die Kulisse dieses monumentalen Theaterereignisses kongenial zeugt.

Perceval, leitender Regisseur am Hamburger Thalia Theater, hat in Koproduktion mit der Ruhrtriennale sieben Romane von Émile Zola auf drei Teile verdichtet: „Liebe“, „Geld“ und „Hunger“ blicken in Abgründe der beginnenden Industrialisierung. Eine Familie, die sich nicht aus Not und Elend zu befreien vermag, die ihre Traumata über Generationen vererbt und deren politischer Wille, die Arbeiterschaft zu befreien, immer mehr Menschen ins Unheil stürzt.

Der Ruhrtriennale ist mit dieser über drei Jahre hinweg entstandenen Trilogie großartig gelungen, was Johan Simons als Leitmotiv seiner nun endenden Intendanz für die Spielstätten im Ruhrgebiet ausgegeben hat: seid umschlungen. Das schafft Perceval. Er umschlingt mit seinem Ensemble die Gießhalle, lässt sie eine tragende Rolle spielen in dieser Vorführung der kapitalistischen Maschinerie.

Über drei Jahre hinweg konnte man der armen Wäscherin Gervaise folgen, ihr Scheitern an den Verhältnissen erleben und ihre Kinder gegen ihre Herkunft kämpfen sehen. In „Hunger“, dem letzten Teil, der als Einzelabend in dieser Woche Premiere feierte, ist Gervaise längst tot. Wie ein Todesengel erscheint Gabriela Maria Schmeide, die zuvor die Mutter und damit den Ausgangspunkt der Familiengeschichte verkörperte. Im weißen Gewand schleicht sie über die Bühne, leuchtet den Männern und Frauen mit ihrer Stirnlampe ins Gesicht, krächzt wie ein Vogel und dokumentiert in quälend mitleidslosem Ton, was sich um ihre beiden Söhne Jacques (Rafael Stachowiak) und Étienne (Sebastian Rudolph) herum abspielt.

Es sind spürbar Romanvorlagen, die Perceval in eine Spielfassung gebracht hat. Für „Hunger“ hat er „Bestie Mensch“ und „Germinal“ verbunden und treibt es auf die Spitze. Die großartige Barbara Nüsse kommentiert als durch die Halle schlurfender Großvater von verschiedenen Standpunkten das Geschehen. Er meint: „Gerechtigkeit kann es nur geben, wenn der Mensch verschwindet.“

Zwei Erzählstränge laufen nebeneinander, wechseln sich ab und verbinden sich in gut choreografierten Szenen miteinander. Während Étienne zum Streik aufruft, um die Tyrannei des Kapitals zu beenden, kämpft Jacques gegen innere Dämonen. Er ist besessen vom Gedanken, eine Frau zu töten. Mit Severine (Patrycia Ziolkowska), Komplizin eines Mordkomplotts, glaubt er, den Zwang überwunden zu haben. Doch die Lust am Lieben weicht, der Drang zum Töten kehrt zurück. „Das sind Dinge, die nicht existieren. Gefühle, die ich nicht erklären kann. Das ist das Erbe meiner Familie, ein Riss, der mitten durch mich durchgeht.“ Das Schicksal ändert sich nicht, die Geschichte nimmt ihren Lauf. Auch Étienne schreit hilflos: „Ich glaube an die Brüderlichkeit aller Menschen.“ Bis er inmitten der erschossenen Streikenden liegt.

Was für Bergarbeiter im ausgehenden 19. Jahrhundert den Tod bedeutete, hallt für Theatergänger von heute lange nach. Noch dann, wen er sich von den körperlichen Anstrengungen an diesem Ort erholt hat.