Christina Aguilera: Zuhause Mutter, auf der Bühne Luder

Nach Britney Spears muss sich Christina Aguilera nun dem Vergleich mit Lady Gaga stellen. Ihr neues Album ist elektrolastiger, rund produzierter Glamour-Pop.

Es müsste Christina Aguilera eigentlich frustrieren, immer nur die Nummer zwei zu sein. Lange Jahre rangierte sie stets als Ersatz-Lolita hinter Britney Spears, und das, obwohl sie wesentlich selbstverständlicher und authentischer das Lack-und-Leder-Luder geben konnte. Davon, dass sie ein Stimmvolumen besitzt, gegen das der kindliche Quengelton von Spears wie ein Bäuerchen im Tropensturm anmutet, mal ganz zu schweigen.

Und nun, da Brit sich selbst aufgelöst hat, hätte endgültig die Stunde von Aguilera als unumstrittener Star ihrer Generation schlagen können. Wäre da nicht das neue, skandalsichere Pop-Wunder der vergangenen Monate: Lady Gaga hat die Aguilera während deren Mutterpause von rechts überholt, geschnitten und unsanft ausgebremst. In diese souveräne Chart-Regentschaft hinein ein Album herauszubringen, das musikalisch und stilistisch dem offenherzigen Gaga-Krawall frappierend nahe kommt, ist ein risikoreicher Kaltstart.

Aber gerade das ist es, was Aguilera immer gereizt hat: Risiken einzugehen. 1999 und 2000, zu Beginn ihrer Karriere, kletterte sie in ihrer Heimat, den USA, mit lieblichem Teenie-Pop dreimal hintereinander auf Platz eins der Charts. Das hätte noch ein paar Jahre so weitergehen können, aber die damals 19-Jährige wollte sich nicht in ein pinkfarbenes Bubblegum-Kostümchen stecken lassen.

Deswegen war die Inszenierung, die sie 2002 für ihr zweites Album wählte, ein kalkulierter Schock: Im Video zu "Dirrty" war nichts mehr süßlich und zierlich. Alles war sexuell aufgeladen und bis zur Besinnungslosigkeit aggressiv. In den USA kam der Erfolg von "Stripped" mit Verzögerung. Der Rest der Welt allerdings liebte die Metamorphose des einstigen Kinderstars vom Fleck weg, wahrscheinlich vor allem deswegen, weil die neuen Songs mit reifen Gospel- und R’n’B-Anleihen Aguileras herausragendem Organ besser gerecht wurden.

2006, als sie ihr drittes Studioalbum herausbrachte, ein erneuter Imagewandel: Mit Hotpants, Corsage und blondierter Dauerwellenpracht gab sie den unterkühlten, retro-sexuellen Varieté-Vamp. Hier wurde auch erstmals die Bandbreite ihrer Einflüsse offensichtlich: Es waren nicht nur Madonna oder Diana Ross, denen sie nacheiferte. Auch Jazz- und Soul-Diven wie Billie Holiday, Etta James, Aretha Franklin und Dinah Washington hatten als Kind zu ihren Idolen gezählt, wie sie in einem Interview preisgab. Wieder verhalf ihr der Stilwechsel zu mehreren Welthits, darunter die Ballade "Hurt".

Was sie dann machte, war die bislang vielleicht größte Überraschung: Sie pausierte. Volle vier Jahre lang. Verlobung, Hochzeit, Kinderglück - Aguilera als Privatmensch, die ihr Familienleben für zwei aufwändige Fotostrecken in namhaften US-Magazinen mit neureichem Pomp inszenierte, ansonsten allerdings angenehm skandalfrei blieb. Lediglich für das 2008 erschienene Greatest-Hits-Album nahm sie eine Single auf. Ansonsten ging sie in ihrer Mutterrolle auf.

"Ein Kind zu haben, macht mich noch sexier", sagte sie im Mai bei US-Talk-Legende Oprah Winfrey. "Man wird sich dadurch erst bewusst, dass wir, die Frauen, es sind, die Leben schenken. Das erscheint irgendwie übermenschlich." Die etwas verquere Demut vor der Schöpfung hindert sie allerdings nicht daran, rein provokativ wieder ordentlich auf die Pauke zu hauen.

Das neue Video ist eine Rückkehr zur schockierenden Offenherzigkeit, der dazugehörige Song, "Not Myself Tonight", eine Aufforderung an die Frauenwelt, sich sexuell zu nehmen, was sie will. Das wirkt angesichts dessen, dass Madonnas "Express Yourself" schon 21 Jahre alt ist, etwas abgegriffen. Frisch und wuchtig dagegen kommt der Sound ihres neuen Albums daher, für den unter anderem Top-Produzent Tricky Stewart (Rihannas "Umbrella") sowie Duette mit M.I.A., Santigold und Peaches sorgen.

Aguilera ist musikalisch und geschäftlich zu clever, um neben neuen Heldinnen wie Lady Gaga in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Sie hat sich bereits ein neues Standbein gesichert: die Schauspielerei. Jahrelang hatte sie zahlreiche Angebote abgelehnt. Im aufwändigen Hollywood-Musical "Burlesque" neben einem weiteren ihrer Vorbilder, der noch wesentlich extrovertierteren Cher, eine Nachtclub-Tänzerin spielen zu können, scheint dann aber ein Muss gewesen zu sein.