Fast zu schön: „Charlotte Salomon“ in Salzburg
Salzburg (dpa) - „Leben? oder Theater? - Ein Singespiel“ hat die jüdische Malerin Charlotte Salomon ihre „dramatisierte Autobiografie“ genannt.
Es handelt sich um ein Konvolut von fast 800 Gouachen, nebst autobiografischen Anmerkungen und Verweisen auf Musikstücke, in denen Charlotte ihre traumatischen Erfahrungen von Vertreibung und Exil zu verarbeiten versuchte. Der französische Komponist Marc-André Dalbavie hat das eigentümliche Tagebuch zu einer Oper verarbeitet, die bei ihrer Uraufführung am Montag bei den Salzburger Festspielen das Publikum faszinierte und verstörte.
Die Hauptfigur der Charlotte Kann, wie sich Charlotte Salomon in ihrem „Singespiel“ nannte, tritt in doppelter Gestalt auf: Marianne Crebassa interpretiert anrührend den Gesangspart, Johanna Wokalek die Rolle der Sprecherin. Das Publikum spendete heftigen, wenn auch kurzen Jubel für das gesamte Sängerteam, aus dem auch Anaik Morel als Paulinka Bimbam und Frédéric Antoun als Amadeus Daberlohn hervorstechen, für die Regie von Luc Bondy und das vom Komponisten selbst geleitete Mozarteumorchester Salzburg.
Charlotte Salomon, die junge Malerin aus jüdisch-großbürgerlichem Haus in Berlin, muss vor den Nazis zu ihren Großeltern nach Südfrankreich fliehen. Als die deutsche Wehrmacht in Frankreich einmarschiert, stürzt sich die Großmutter aus dem Fenster. Da erfährt Charlotte, dass ihre Mutter nicht, wie ihr einst gesagt wurde, an Grippe gestorben ist, sondern ebenfalls Selbstmord beging, die ganze Familiengeschichte von Suiziden durchzogen ist und ihr möglicherweise das gleiche Schicksal bevorsteht. Um nicht wahnsinnig zu werden, beginnt sie, ihre Lebensgeschichte zu malen, und notiert auch Musikstücke, die ihr dabei in den Sinn kommen. 1943 wird Charlotte Salomon nach Auschwitz deportiert und ermordet.
Marc-André Dalbavie, Jahrgang 1961, hat zu dieser von der Librettistin Barbara Honigmann mit operngerechten Handlungssträngen angereicherten Geschichte eine betörend schöne, mitunter fast zu eingängige Musik komponiert. Ein melancholisch-düsterer Grundton durchzieht die Partitur, deren sinnlicher Gestus unüberhörbar anknüpft an die flirrenden Klanggemälde der französischen Impressionisten und die Schöpfungen des Klangzauberers Olivier Messiaen.
Selbst an dramatischen Wendepunkten im Leben der Charlotte Salomon wie der Reichspogromnacht, während der Charlottes Vater ins KZ verschleppt wird, klingt diese Musik nicht brutal - manchmal hätte man sich hier sogar etwas mehr Schärfe gewünscht. Ein musikalischer und szenischer Höhepunkt: Die Gewitterszene, in der sich Charlotte ihrem Gesangslehrer Amadeus Daberlohn, der auch der Geliebte ihrer Stiefmutter ist, auf dem schwarzen Deckel eines Flügel hingibt.
In dieses Geflecht von Klängen eingewebt sind Zitate aus Musikstücken, an die sich Charlotte im Exil erinnerte. Stücke aus ihrer von Musik gesättigten Kindheit - die Stiefmutter Paula Salomon-Lindberg (in der Oper Paulinka Bimbam) war eine berühmte Sängerin. Sequenzen aus Werken von Berlioz, Mahler und Schubert klingen an, französische, deutsche und jiddische Volksweisen, Bizets „Carmen“ - zu glücklicheren Berliner Zeiten die herausfordernde Habanera, am bitteren Ende das fünftönige Schicksalsmotiv. Eine Horde SA-Männer schmettert sogar das berüchtigte Horst-Wessel-Lied.
Die Riesenbühne der Salzburger Felsenreitschule wird von Regisseur Luc Bondy und Bühnenbildner Johannes Schütz multimedial bespielt. Verschiedene Interieurs - ein großbürgerlicher Salon mit Flügel, das Kinderzimmer der Charlotte, das Schlafzimmer der Eltern, die Wohnung der Großeltern im französischen Exil, ein Zugabteil mit Exilanten - sind nebeneinander aufgereiht, getrennt nur durch verschiebbare Zwischenwände. Gespielt, gesprochen und gesungen wird simultan und multilingual an mehrere Orten, den Hintergrund bilden Projektionen von Charlottes autobiografischen Bildern.