Feurige Vitalität: Reimanns „Lear“ in Hamburg
Hamburg (dpa) - Mehr als drei Jahrzehnte hat es gedauert, bis Reimanns Operntragödie „Lear“ an ihren eigentlichen Bestimmungsort Hamburg zurückgefunden hat.
Denn den legendären Uraufführungserfolg von 1978 mit Dietrich Fischer-Dieskau in der Titelpartie hatten die Hanseaten generös an München abgetreten, als Intendant August Everding an die Bayerische Staatsoper wechselte. Hamburgs Opernchefin Simone Young zeigte nun, dass Reimanns düster grandiose Shakespeare-Adaption nichts von ihrer denkwürdigen Vitalität eingebüßt hat.
In München war damals alles schön realistisch abgelaufen: König Lear als Greis mit schlohweißem Haar auf sturmumtoster Heide. Für die Hamburgische Staatsoper schlug Karoline Gruber mit ihrem Bühnenbildner Roy Spahn resolut einen anderen Kurs ein. Schwarze Wände, sargähnliche Podeste und metallene Gangways gaben die Versatzstücke ab für einen eher kargen, abstrakten Shakespeare-Parcours. Auf diesem verschleudert der noch kraftstrotzende Lear sein Reich an zwei infame Töchter - ohne die Liebe der dritten zu erkennen.
Es war eine Paraderolle für den dänischen Sänger-Star Bo Skovhus (49), der bei der Premiere in Hemdsärmeln und Schaftstiefeln stimm- und ausdrucksmächtig zu einem gefährlichen Jedermann mutierte. Eine geballte Ladung aus monströser Großmannssucht, Starrsinn und Egozentrik: So trieb sich dieser gewalttätige Hamburger Lear - mit seinen glatzköpfigen Kumpanen als surreal bedrohlichen Spiegelbildern - in den Untergang.
Intelligent hatte die Regie dazu ein Defilee aus ständig sich ändernden Schriftzeichen erfunden, die sich kaleidoskopisch zu immer neuen Schlüsselwörtern formten. „Pflicht“, „Schuld“, das „Nichts“ und das „Vergessen“ zogen so - auf Stellwände projiziert - kreisend am Publikum vorbei.
Generalmusikdirektorin Young nahm sich am Pult der temperamentvollen Philharmoniker der wirklich spektakulären Momente der Partitur mit demselben Feuereifer an wie der kunstvoll zurückgenommenen Passagen. Neben dem bewundernswerten Skovhus, der dem Lear ebenso zerstörerische wie mitleiderregende Größe gab, glänzte das gesamte Sängerensemble. Zum großen Schlussapplaus erschien auch der 75 Jahre alte Komponist, der von der Hamburger „Lear“-Hommage ebenso bewegt war wie das Publikum.