Martin Carr: Pop-Veteran voller Verve
Berlin (dpa) - Schau an, Martin Carr ist zurück. Vor Ewigkeiten bei der Britpop-Band The Boo Radleys. Die hatten einen mittleren Hit - wie hieß der noch? Dann unauffällig als Bravecaptain unterwegs.
Jetzt solo. Wie alt mag der inzwischen sein? Doch halt, das klingt aber frisch. Und ziemlich gut. Sehr gut sogar.
So dürfte es einigen ergehen, die „The Breaks“ hören, das neue Album von Martin Carr auf dem Hamburger Label Tapete, einem Spezialisten für Britpop-Veteranen (LLoyd Cole, Bill Pritchard). Man hatte den Mann nicht mehr so richtig auf dem Zettel, erinnerte sich von Ferne an „Wake Up Boo!“, die Top-Ten-Single vom Album „Wake Up“ (1995), das die etwa zehnjährige Karriere der Boo Radleys krönte (wobei die Band zwischen Ende der 80er und den späten 90er auch nur auf der Insel wirklich wahrgenommen wurde). Danach verlor sich die Spur, nur noch Spezialisten wussten über Carrs Nachfolgeprojekte Bescheid.
Umso erstaunlicher nun seine künstlerische Wiedergeburt mit diesem ganz großartigen Pop-Album. Schwelgerische Harmonien (besonders schön im himmelhochjauchzenden Westcoast-Soul-Opener „Santa Fe Skyline“, der sich tief vor Isaac Hayes' Geniestreich „Shaft“ verbeugt), üppige Burt-Bacharach-Arrangements (die edlen Trompeten in „Mainstream“!), brillante Vocals in der Nachfolge des Seventies-Pophelden Harry Nilsson, dazu reichlich Bezüge auf Carrs Helden The Beatles, The Kinks, The Zombies oder Arthur Lees Love (an deren Hit „Alone Again Or“ die spanischen Gitarren in „Mountains“ erinnern).
Sowas kann nur ein echter Kenner und Könner, und wohl auch nur ein Brite: die goldenen Zeiten der Popmusik handstreichartig wieder aufleben lassen und dann im Song „Mainstream“ selbstironisch mit Damenbegleitung säuseln: „Here I am swimming in the mainstream/ I tell my friends I subvert it from within...“
Mit „Senseless Apprentice“ kommt Carr seiner Boo-Radleys-Phase noch am nächsten, lässt Gitarren und Drums in schönster Nineties-Britpop-Manier ordentlich Druck erzeugen und verliert dabei doch nie die sommerliche Melodie aus den Augen. Ansonsten aber ist dies ein reifes Retro-Album mit 40 oder 50 Jahre zurückreichenden Wurzeln ohne jeden fade-epigonalen Beigeschmack. Mit formidablen Liedern, wie sie zuletzt beispielsweise auch der tolle Songwriter Chris Difford (Squeeze, Difford & Tilbrook) öfter hinbekam.
„How Can I Explain?“, fragt Carr in einem zunächst zarten, später psychedelisch ausfransenden Gitarrenfolk-Song. Erklärungen sind nicht nötig - etwa warum der Mann so lange weg war und warum er gerade jetzt, 20 Jahre nach seinem einzigen Hit, mit solch einem Album voller Verve und Elan zurückkehrt. Wir freuen uns einfach über dieses Comeback. Und wissen - falls die Tapete-Connection dauerhaft Ertrag abwirft - demnächst garantiert auf Anhieb, wer Martin Carr ist. Und auch, dass er jetzt Mitte Vierzig ist.