Sänger Nikitin sagt Bayreuth-Auftritt ab
Bayreuth (dpa) - Es schien eine unspektakuläre Festspielsaison auf dem Grünen Hügel in Bayreuth bevorzustehen. Doch nun gibt es den Eklat schon vor der Eröffnung: Der russische Sänger Evgeny Nikitin, der für die Titelpartie im „Fliegenden Holländer“ vorgesehen war, hat seine Koffer gepackt.
Der Grund: Der frühere Metal-Musiker hatte sich einst in jungen Jahren Tätowierungen mit nationalsozialistischem Bezug stechen lassen. Die Festspielleitung bat am Samstag zum Gespräch, anschließend sagte Nikitin seine Auftritte ab. Der „Holländer“ war weg - vier Tage vor der Premiere an diesem Mittwoch mit viel Prominenz aus Politik, Gesellschaft und Wirtschaft.
Am Sonntagvormittag schon änderten die Festspielverantwortlichen die Besetzungsliste - Samuel Youn kommt unverhofft zur ersten großen Rolle in Bayreuth. Der Bassbariton hatte am Festspielhügel bislang eher kleinere Partien inne, war aber im Krankheitsfall sowieso als Nikitin-Ersatz vorgesehen gewesen und konnte in der Generalprobe überzeugen.
Nikitin selbst hat die Tattoos als Jugendsünde und als großen Fehler bezeichnet. Eine politische Aussage habe er damit nicht machen wollen, hatte er bereits am Freitagabend der „Bild am Sonntag“ gesagt. Doch das rettete sein Bayreuth-Engagement auch nicht mehr. Nikitin, das zeigen Filmaufnahmen, trug früher eine Tätowierung oberhalb der Brust, die leicht als Hakenkreuz zu identifizieren ist. Inzwischen prangt an dieser Stelle ein farbintensives neues Tattoo. Auch Runen trägt er am Körper.
Nikitin, 1973 in Murmansk geboren, war mal ein wilder Kerl und spielte früher in einer Metal-Band mit. Daneben hatte er aber auch längst ein Gesangsstudium absolviert. Er gastiert inzwischen an bekannten Opernbühnen dieser Welt - Salzburger Festspiele, Metropolitan Opera, Bayerische Staatsoper. Ein Mann für schwierige Partien - und vor allem für Wagner. Nun war der Auftritt in Bayreuth als ein Karriere-Höhepunkt geplant. Er hätte das Zeug zum Star am Grünen Hügel gehabt: unangepasst, tätowiert, nicht stromlinienförmig. In das Konzept von Festspielchefin Katharina Wagner, die stets eine Öffnung der altehrwürdigen Institution anstrebt, schien Nikitin, der tätowierte Bassbariton mit bewegter Vergangenheit, perfekt zu passen.
Aber: Wer im Festspielhaus auf der Bühne steht, betritt geschichtsträchtigen Boden, der einst tiefbraun durchtränkt war. Adolf Hitler ging beim Wagner-Clan im Haus Wahnfried ein und aus. Auf dem Festspielhügel wehten Hakenkreuz-Fahnen. Die engen Verstrickungen der Festspiele mit dem Nationalsozialismus markieren ein düsteres Kapitel deutscher Kultur- und Musikgeschichte. Hier sind Sensibilität und Vorsicht besonders gefragt.
Jeden Anschein, man sei sich dieser Geschichte nicht bewusst, wollen die Festspiele wohl vermeiden. Deshalb haben die Verantwortlichen Nikitin am Samstag zur Unterredung gebeten. Aufgeschreckt worden ist die Festspielleitung durch Bilder in der ZDF-Kultursendung „Aspekte“ und von einer Anfrage der „Bild am Sonntag“ zu den Tattoos Nikitins. Tatsächlich finden sich aber im Videoportal YouTube jene verräterischen Aufnahmen schon seit 2008: Nikitin sitzt mit kahlrasiertem Kopf an einem Schlagzeug, das Hakenkreuz oberhalb der Brust ist zwar mit einem anderen Motiv leicht überdeckt worden, aber trotzdem unschwer zu erkennen.
Hat sich die Festspielleitung also früher nicht gut genug mit Nikitin beschäftigt? Man verpflichte zunächst eine Stimme, sagt Festspielsprecher Peter Emmerich. Was jemand auf der Haut trage, sei nebensächlich. Diese Maßgabe ließ sich nun wohl nicht mehr durchhalten.
Die Konsequenzen sind bitter für Nikitin - aber auch für die Festspiele, die nun vor einer ungewissen Premiere am Mittwoch stehen. Dabei waren die Vorbereitungen auf die 101. Festspielsaison bislang weitgehend geräuschlos verlaufen. Christian Thielemann am Pult steht für professionelle Arbeit auf höchstem Niveau, auch Regisseur Jan Philipp Gloger machte vor seinem Bayreuth-Debüt einen gelassenen Eindruck, er schien gut vorbereitet. Nun wird es darauf ankommen, wie schnell sich Ersatzsänger Youn in die Inszenierung hineinfindet. Gloger bangt jedenfalls um die künstlerische Unversehrtheit seiner Inszenierung. Mit der Ruhe auf dem Grünen Hügel ist es vorbei.