Sparsam in den Wahnsinn: „Wozzeck“ in Berlin
Berlin (dpa) - Der Wahnsinn lauert zwischen den Gitterstäben. Schatten bewegen sich hinter dem Holzverschlag, dutzende Hände suchen einen Weg durch die Ritzen - in Andrea Breths Berliner „Wozzeck“ gibt es vor dem Irrewerden kein Entrinnen.
Alban Bergs Oper, die bei der Uraufführung 1925 in Berlin einen Skandal auslöste, lässt auch fast 90 Jahre später erschaudern. Messerscharf und mikroskopisch genau begleitet die Schauspiel-Regisseurin Breth den Weg des Soldaten Wozzeck in die Verzweiflung - und landet damit am Samstag in der Übergangsspielstätte der Staatsoper Unter den Linden einen großen Publikumserfolg. Auch das Ensemble unter Daniel Barenboim mit Roman Trekel in der Titelpartie und Nadja Michael als Marie wird im Schiller Theater mit Ovationen bedacht.
Sie halte nichts von billigen Aktualisierungen mit Aldi-Tüten und Männern in Jogginghosen, hatte Breth vor der Premiere gesagt, von Hartz IV-Klischees und Arme-Leute-Idylle, wie sie im Regietheater an der Tagesordnung sind. Dabei bietet das Dramenfragment Georg Büchners, auf das Alban Berg seine 15 Szenen stützt, hinreichend Brücken zur Gegenwart. Ein Soldat, gemartert im eigenen Dasein, wird von Medizin und Militär in die Enge getrieben und schließlich zum Mörder.
Breth hat einen Holzverschlag aufstellen lassen (Bühnenbild: Martin Zehetgruber), einen von der Dunkelheit umrahmten Guckkasten, der sich im Verlauf des Dramas zu einem Karussell weitet und auf der Bühne kreist. Während die Zwischenmusik erklingt, öffnen und schließen sich Trennwände in Blitzgeschwindigkeit - ein präzises Uhrwerk, das fast unbemerkt tickt. Ob Marie und ihr Kind, der Doktor oder der Hauptmann - sie drehen sich um sich selber und wissen weder ein noch aus. Der Militärmann ist in seiner Welt von Gehorsam und Scheinmoral eingesperrt, der irre Arzt in seiner menschenverachtenden Experimentierlust, die Hure Marie in ihrer Verzweiflung.
In den kleinen Gesten erweist sich Breth als Meisterin der psychologischen Durchdringung, die das Publikum nicht unterfordert und trotzdem emotional berührt. Wenn etwa Wozzeck und sein Freund Andres (Florian Hoffmann) blutverschmiert die erjagten Hasen häuten (und nicht wie im Original Schilf ernten) oder mit kleinen Schritten der Doktor und der Hauptmann den Soldaten Wozzeck in die Enge treiben, wird diese Intensität spürbar.
Nur die Wirtshausszene wird zum Panoptikum kopulierender und fressender Menschen - und lässt ahnen, warum bei der Uraufführung die Staatsoper kurz vor einer Saalschlacht stand zwischen den „radikalen Schönberg-Jüngern“ und dem konservativen Teil des Publikums, wie sich der damalige Dramaturg Julius Knapp (1882-1962) erinnerte. Dabei geht die Radikalität des Werkes von der Musik aus. Schönberg-Schüler Berg (1885-1935) entzieht sich dem Sog von Wagner und Mahler mit der nur scheinbar anarchischen Atonalität. Er verpasst der Oper ein enges Formkorsett, die Szenen werden als sinfonische Sätze oder Barocktänze überschrieben.
Die Inszenierung stützt sich auf zwei starke Darsteller. Roman Trekel ist ein bedrängter Wozzeck, der sich haarscharf am Abgrund bewegt, in den er schließlich mit dem Mord an Marie doch noch stürzt. Auch wenn er mit seinem etwas leisen Bariton nicht immer auf der Höhe der dramatischen Ereignisse ist, gibt Trekel der Figur eine bewegende Größe. Nadja Michael hat mit ihrer mächtigen Stimme weniger Probleme, sich Gehör zu verschaffen. In seiner Verschlagenheit erweist sich Graham Clark als Bestbesetzung für den Hauptmann. Und auch Pavlo Hunka bleibt als Doktor heimtückisch und böse.
Doch vor allem wird die Staatskapelle Berlin hier zum Hauptdarsteller. Genauso präzise wie die Inszenierung, lässt Barenboim das Orchester spielen. Doch von Sprödigkeit ist keine Spur. Üppig kann die Staatskapelle im spätromantischem Klang schwelgen - Breths intelligente Inszenierung gibt der Musik dazu viel Raum.
Die Premiere war Auftakt der Festwochen der Staatsoper Unter den Linden. Am Sonntag sollte als Koproduktion mit der Mailänder Scala Richard Wagners „Walküre“ mit Barenboim am Pult auf die Bühne kommen. Auf dem weiteren Programm der Festwochen stehen auch Konzerte, unter anderem mit dem Starpianisten Lang Lang. Während der Renovierung des historischen Hauses der Staatsoper spielt das Ensemble bis Mitte 2013 im Schiller Theater.