Zwischen Buh und Bravo Vorteil Frank Castorf

München (dpa) - An der Bayerischen Staatsoper haben sogenannte Regie-Berserker wie Peter Konwitschny, Calixto Bieito oder Hans Neuenfels meist erst dann eine Chance, wenn sie sich anderswo schon die Hörner abgestoßen haben.

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So auch der langjährige Berliner Volksbühnen-Chef Frank Castorf (66), der am Pfingstmontag im Münchner Nationaltheater mit Leos Janaceks beklemmender Gulag-Oper „Aus einem Totenhaus“ ein spätes Hausdebüt feierte.

Doch seine Inszenierung des kompakten Hundertminüters über Leben und Sterben in einem sibirischen Straflager hatte noch genug Zunder, um das Publikum in Rage zu bringen. Als der Berliner Regisseur auf der Bühne erschien, gab es ein kurzes, aber heftiges Buh-Bravo-Duell, bei dem sich knapp die Castorf-Fans durchsetzten. Dann verließ ein Großteil des Publikums fluchtartig das Opernhaus.

Janacek hatte für seine letzte, 1930 uraufgeführte Oper eine Vorlage des russischen Schriftstellers Fjodor Dostojewski verwendet, der selbst mehrere Jahre in einem zaristischen Lager war und darüber Aufzeichnungen machte. „Aus einem Totenhaus“ ist ein fast reines Männerstück ohne wirkliche Handlung. Während sie von den Lageraufsehern geknechtet und misshandelt werden, erzählen sich die Gefangenen, wie es sie in die Hölle der Strafkolonie verschlagen hat.

Nur der Adelige Gorjancikov sticht aus der Masse der Sträflinge hervor. Als er dem Aufseher berichtet, ein politischer Gefangener zu sein, gibt es hundert Peitschenhiebe. Länder, die die Menschen zu ihrem Glück zwingen wollen, kennen bekanntlich keine politischen Gefangenen.

Dass ein Straflager, ob im einstigen Zarenreich, unter Stalin, Mao, Pol Pot, Hitler oder George W. Bush kein Ponyhof ist, daran lässt nicht nur Janaceks ganz und gar unverbindliche Musik keine Zweifel. Auch Castorf lässt sich nicht lumpen, seine Bühnenkameras zeigen blutige Peitschenstriemen, notdürftig versorgte Wunden und zerschundene oder irre gewordene Gesichter in Nahaufnahme. Die Choristen tragen Knochenmänner-Kostüme wie in einem Splattermovie.

Und der heillos verschachtelte Bühnenturm von Aleksandar Denic, dekoriert mit den Symbolen politischer, religiöser und ökonomischer Macht - zaristischer Doppeladler, orthodoxes Kreuz, Leninbüste, Pepsi-Cola-Werbung - ist sozusagen die Essenz aller Straflager und KZs dieser Welt mit einem Stück des berüchtigten Elektrozauns von Auschwitz.

Dass dieses Setting ein feiertäglich gestimmtes Publikum nicht fröhlich stimmt, war weder beabsichtigt noch zu erwarten. Doch bei aller Drastik muss man konstatieren, dass die Inszenierung in ihrer peniblen Texttreue fast klassisch und keinesfalls unästhetisch war. Dazu ist Castorf ein Meister der Gleichzeitigkeit, der es auf geniale Weise versteht, einen Mikrokosmos aus hunderten verschiedener Perspektiven, Innen- und Außenansichten zu konstruieren, ohne dass man den Überblick verliert.

Die australische Dirigentin Simone Young am Pult des Bayerischen Staatsorchesters und des Staatsopernchores war Castorf an diesem kurzen, aber knackigen Opernabend eine kongeniale Partnerin. Mal zärtlich, mal zupackend, lotete sie alle Facetten von Janaceks komplexer Partitur aus, in der schneidende Dissonanzen und Schlagzeug-Krawall oft unvermittelt neben erdiger Volkstümlichkeit stehen.

Das 20-köpfige Ensemble überzeugte stimmlich wie darstellerisch, wobei der dänische Bariton Bo Skovus als Häftling Siskov zu Recht besonders umjubelt wurde. Am Ende kommt der Adelige Gorjancikov, der unverkennbar Züge Dostojewskis trägt, frei. Draußen erwartet ihn eine Blondine mit einer Adidas-Jacke als Willkommensgeschenk. Vom Regen des Lagers in die Traufe der kapitalistischen Konsumgesellschaft. Dieses etwas wohlfeile Leitthema Castorfscher Inszenierungen durfte natürlich nicht fehlen.