Aalto-Compagnie in Essen Schwanensee: Traumschönes Werk in Tüll
Es muss nicht immer modern und experimentell sein: Die Aalto-Compagnie tanzt sich in Essen mit einer klassischen Inszenierung mitten ins Herz.
Essen. Der Ballett-Klassiker Schwanensee macht glücklich. Unsterbliche Musik, choreografische Meisterschaft, prachtvolle Ausstattung und vor allem — große Gefühle. Qualitäten, die der moderne Tanz kaum bietet. Romantische Handlungsballette, vom Blatt inszeniert, findet man heute jenseits der Ballett-Metropolen allerdings selten. Doch das Publikum verlangt danach, wie ein Blick nach Essen zeigt. Dort hat Ballettintendant Ben van Cauwenbergh, der stets publikumsfreundlich programmiert, einen Schwanensee nach alter zaristischer Sitte auf den Spielplan gesetzt. Dafür erntet er allabendlich stehende Ovationen und Bravo-Zwischenrufe für sein traumschönes Werk.
Den 200. Geburtstag des Schwanensee-Choreografen Marius Petipa ebenso vor Augen wie sein zehnjähriges Jubiläum als Chef des Aalto-Ensembles, gönnt Van Cauwenbergh sich das „Ballett der Ballette“. Keine aufsehenerregende Neuinterpretation — die haben andere von John Neumeier mit seiner Geschichte über Ludwig II bis zu Dada Masilo und ihrer südafrikanischen Schwulen-Tragödie längst geliefert. Der Ballettdirektor im Ruhrgebiet betreibt lediglich ein wenig zeitgeistige Dramaturgie-Kosmetik. Bei einem nur 30-köpfigen Ensemble und einem wegen abgesprungener Sponsoren auf 60 Prozent zusammengeschrumpften Budget allerdings ein ambitioniertes Projekt.
Van Cauwenberghs Schwanensee, choreografiert in Anlehnung an die legendäre Sankt Petersburger Petipa/Iwanow-Fassung von 1895, erfüllt die Sehnsucht nach opulenten Gefühls- und Fantasiewelten. Auch klanglich: Ganz verinnerlicht interpretieren die Essener Philharmoniker Peter I. Tschaikowskys Komposition. Und was das Aalto-Ballett an technischer Perfektion nach dem Vorbild der großen Ensembles nicht bieten kann, gleicht es mit dem Charme einer auffallend jungen Truppe aus.
Was nicht heißen soll, dass schlecht getanzt würde. Im Gegenteil. Ben Van Cauwenbergh hat sich für die weißen Akte mit Monique Janotta, langjährige Primaballerina der Deutschen Oper am Rhein in der Erich Walter-Ära (1964-1983), sensibelste Kompetenz eingekauft. Was die 18 großen Schwäne — üblich sind 40 — zeigen, ist durchaus ein ästhetischer Genuss. Die Diagonalen, die Reihen und Parallelen stehen perfekt. Der Pas de Quatre — wunderbar synchron. Nur ab und an, wenn die Symmetrien sich auflösen, gibt es ein paar wuselige Momente. Einen lebhaften folkloristischen Akzent bilden die Nationaltänze in stilvollen Kostümen. In vielen Fassungen etwas ermüdend, sind sie hier angenehm gerafft.
Auch die Solisten sind durchweg sehenswert. Moises Leon Noriegas Zauberer Rotbart wirbelt dämonisch durch Ballsaal und Schlosspark. Selbst die zweite Besetzung des Liebespaars zeigte sich der diffizilen Technik der Grands Pas de Deux und Soli absolut gewachsen. Mariya Tyurina gelang glaubwürdig die Verwandlung von einer sinnlichen Odette in eine hintergründige Odile. In Prinz Artem Sorochan ist ein Danseur Noble angelegt.
Van Cauwenbergh („Wer verliebt sich in einen Schwan?“) ließ sich eine Rahmenhandlung einfallen, um das Märchen plausibler zu machen: Der Königssohn hat am Ende alles nur geträumt. Er schläft in Dorin Gals Schlosskulisse mit Tor-Ruine und Seeblick am Ende des ersten Aktes ein, umhüllt von Nebel. Die Übergänge von der Realität in die Traumwelt und am Ende des vierten Aktes wieder zurück markieren bühnenhohe Videoprojektionen. Hier verschwimmen — etwas kitschig — Schwanenfrauen im Wind, Wassermotive, Federkleider.
Aber das Konzept geht auf. Geschickt hat Van Cauwenbergh bereits im ersten Gesellschaftsbild als Vorahnung eine weiße Dame mit Sonnenschirm und Federn am Rock durch den Park geschickt, der sich der Prinz mit Interesse genähert hat. Auch ein schwarzes Paar mischt sich unter die Geburtstagsgesellschaft. So geistert die Schwanensee-Personage durch seinen Schlaf. Und wenn seine Traumfrau ihn am Ende, nachdem er und Odile gerade im See ertrunken sind, weckt, entschwinden die Schwanenmädchen gen Bühnenhimmel. Happy End. Stimmig, gewiss, aber ein bisschen zu schön, um „wahr“ zu sein.
In Düsseldorf wartet man derweil gespannt auf Martin Schläpfers Schwanensee. Der Noch-Chef-Choreograf des Balletts am Rhein wird sein erstes Handlungsballett am 8. Juni in Düsseldorf vorstellen. Derlei Harmonieseligkeit ist von ihm nicht zu erwarten.