Kolumne Was das Kulturgut Publikum braucht
Tine Lowisch über Kunstkonsum.
Ich sitze jetzt schon fünf Jahre lang freiwillig in der Kunststation, in einem Projektraum für gegenwärtige und mittlerweile auch zukünftige, künstlerische Positionen in einem Bahnhof im freundlichen Westen unserer Stadt. Letzten Sonntag zum Beispiel, am Tag des offenen Denkmals, ganze neun Stunden lang. Zusammen mit meinem Mann, also eigentlich achtzehn. Wir werden dort einfach nicht müde, uns über jeden einzelnen unserer oft zufälligen Besucher zu freuen. Viele potentielle Besucher ziehen natürlich auch vorüber. Diese Reisenden sind ja Passanten, die dort keinen Ort für Kunst erwarten – die andere Ziele haben.
Wenn Sie uns dann aber entdecken und spontan ihre eigentliche Motivation unterwegs zu sein ändern, wenn sie sich Zeit nehmen, sich freuen, dass es nichts kostet, die Kunststation zu besuchen, und sie von sich selbst überrascht, die Gelegenheit einfach mal beim Schopf packen, sich mit Kunst zu beschäftigen, wächst in diesem Moment eine wichtige Ressource nach. Denn genau dann entsteht bei Manchem erstmalig kulturelles Interesse. Aus vielen Gründen ist genau diese Erfahrung für mich die Belohnung dafür, es unermüdlich weiter zu versuchen. Wenn unsere Besucher die Kunststation verlassen, sind sie mit dem Erlebten zufrieden, manche begeistert. Vielleicht waren bisher ein Dutzend frustriert. Bei insgesamt etwa 6500 Besuchern können wir damit gut leben. Oft haben wir unser Publikum im Gespräch persönlich kennengelernt und dabei viel von den Beschäftigungsfeldern und Interessen unserer Gäste erfahren. Einmal erzählte mir ein Gast, dass nur zehn Prozent der Bevölkerung Kunst- und Kulturelle Angebote überhaupt überzeugt nutzen, weil sie in ihrer Kindheit dazu angeregt wurden und im Erwachsenenalter gute Rezeptionserfahrungen gemacht hätten. Sie sehen, da ist noch Luft nach oben. Ich frage mich, ob Kultureinrichtungen ihren gesellschaftlichen Auftrag überhaupt noch wirksam erfüllen können, bei so einem enttäuschenden Wert.
Eine andere Besucherin überraschte mich damit, dass es mittlerweile möglich sei, Museen ausschließlich virtuell zu besuchen und dass diese Möglichkeit dabei helfen soll, die bestehenden Hemmungen, sich mit Kunst und Kultur zu beschäftigen, abzubauen – Kunstgenuss vom Sofa aus. Verändern sich die kulturellen Interessen und Vorlieben eines möglichen Kulturpublikums durch solche Angebote, oder sind virtuelle Rundgänge durch physisch nicht existierende Museen eine zeitgemäße Antwort auf ein gänzlich sich veränderndes Konsumverhalten der sogenannten kunstaffinen Bevölkerung? Manchmal denke ich: Die Lage ist ernst. Aber dann beruhige ich mich mit dem Gedanken, dass wir den Zugang zur Kunst und unsere Freude an der Vermittlung von Kunstverständnis ja aus freien Stücken anbieten und unsere Gäste dieses Angebot annehmen oder ausschlagen können. Beides ist legitim, eine Option nur eben ein bisschen schade.
Walter Benjamin schreibt irgendwo in seinem großen Essay über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (ich habe diese Textstelle gerade nur im Kopf zur Hand): „Für die Massen sei das Kunstwerk ein Gegenstand der Zerstreuung, für den Kunstfreund sei es ein Gegenstand seiner Andacht.“ Nicht nur aus diesem Grund ist es also gar nicht schlimm, wenn manchmal nur alle halbe Stunde ein einzelner Gast zu uns hereinkommt und die Massen, immerhin lächelnd, an uns vorüberziehen.