Interview Was die Weihnachtsgeschichte so besonders macht

Düsseldorf · Der Theologe und Sprachpoet Fulbert Steffensky erklärt im Interview, warum die Weihnachtsgeschichte unentbehrlich ist. Und warum sie nicht richtig sein muss, um wahr zu sein.

Die Weihnachtsgeschichte fasziniert bis heute.

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Er ist einer der populärsten theologischen Autoren im deutschsprachigen Raum. Das mag zum Teil an seinem bewegten Lebenslauf liegen, der beinahe zwangsläufig Glaubensweite zur Folge haben musste. Vor allem aber ist Fulbert Steffenskys Popularität darin begründet, dass er einer der großen und unverwechselbaren Sprachpoeten des Glaubens ist. Das gilt für das geschriebene wie für das gesprochene Wort.

Herr Steffensky, in einem „Zeit“-Interview im Sommer haben Sie gesagt, Ihnen werde im Alter die Bibel von Neuem fremd und Sie läsen die Texte inzwischen erwartungslos. Werden Sie im Gottesdienst an Heiligabend auch die Weihnachtsgeschichte erwartungslos hören?

Fulbert Steffensky: Man kann sich den Texten auf zwei Weisen nähern. Entweder betrachte ich die Bibel als ein wichtiges, ein heiliges, vielleicht sogar ein unfehlbares Buch. Das verstellt mir aber andere Zugänge. Wenn ich die Bibel erwartungslos lese oder höre, dann geschieht in den Texten noch etwas, was ich nicht schon vorher gewusst habe.

Historisch-kritisch betrachtet, stimmt an der Weihnachtsgeschichte praktisch nichts: das Setting im Stall nicht, selbst der Ort Bethlehem nicht, auch nicht die Umstände der Geburt. Wie sähe Ihre Verteidigungsrede für die Weihnachtsgeschichte aus?

Steffensky: Die Weihnachtsgeschichte ist eine wundervolle Inszenierung der Hoffnung der Menschen. Man könnte nach der Richtigkeit oder der Wahrheit der Geschichte fragen. Ob Ochs und Esel dabei waren, Josef im Hintergrund oder die Hirten, das weiß ich nicht. Aber die Geschichte ist in einem ganz anderen Sinn wahr: in der Dreistigkeit, mit der erzählt wird, dass Gott nicht in seiner glorreichen Herrlichkeit geblieben, sondern Mensch geworden ist. Gott ist berührbar geworden, er kann geschlagen und geliebt werden. Das ist so dreist, dass man diese Schönheit nur bewundern kann. Und das kann nicht in einem einzigen Satz oder einem enthäuteten Gedanken erzählt werden, sondern braucht eine große Aufführung, die vielleicht nicht richtig ist, aber wahr. In diesem Sinn ist mir die Geschichte bis heute unentbehrlich.

„Man hofft auch, indem man tut, als hoffte man“: Für Fulbert Steffensky (85) ist Hoffnung keine Garantie eines guten Ausgangs.

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Sie sind Religionspädagoge und haben sieben Enkel. Wenn Sie als Großvater die Weihnachtsgeschichte erzählt haben, haben Sie dabei komplett der Geschichte vertraut oder sie auch erklärt?

Steffensky: Beim Vorlesen am Heiligen Abend ist nicht die Stunde des Erklärens, sondern der Aufführung und Inszenierung, des Hörens und des Singens. Aber an anderen Tagen sind wir den Kindern Erklärungen schuldig, weil sie sonst irgendwann nicht mehr glauben können. Es kann keinen Glauben geben, der in der Dumpfheit des Unerklärten bleibt. Es war das Problem unserer Glaubensgeschichte, dass wir keine Aufklärung mitgeliefert haben.

In Ihrem Buch „Ein seltsamer Freudenmonat“ schreiben Sie: „Das Sentiment muss nicht sentimental sein.“ Müssen wir uns also unserer weihnachtlichen Rührung nicht schämen?

Steffensky: Die Rührung oder Rührseligkeit ist ein menschliches Vermögen. Warum sollte man sich ihrer schämen? Um die Weihnachtszeit ist vieles anrührend: die Helligkeit und die Dunkelheit, die Kälte und die Wärme, das Verlassensein und Gefundenwerden, das Auf-der Flucht-Sein und das Geborgensein. Auch viele Lieder sind rührselig oder rührend. Ich halte nichts von theologischem Puritanismus.

Wovon lassen Sie sich Weihnachten bewegen?

Steffensky: Zunächst einmal vom Gottesdienst selber. Gerade in Zeiten, in denen der Glaube nicht ganz leicht ist, muss man sich Verbündete im Glauben suchen. Es ist ja nicht leicht, Gott zu loben. Das Schweigen Gottes ist die große Einrede gegen das Weltvertrauen und gegen den Glauben. Ich suche mir Genossen des Glaubens, mit denen ich den Gottesdienst feiere. Es gibt auch noch andere Genossinnen und Genossen, und das sind meine Toten. Das sind diejenigen, die den wundervollen 139. Psalm gedichtet oder die Weihnachtslieder geschrieben haben. Man muss ja im Glauben nicht vollkommen authentisch sein. Man kann sich auch Glauben ausleihen. Das mache ich, indem ich in den Gottesdienst gehe oder einen Psalm bete. Der Psalm ist der Rollator meines eigenen hinkenden Glaubens. Ich muss nicht alles sein, das ist eine tröstliche Erfahrung, vielleicht auch des Alters.

Wenn man Ihre jüngeren Texte liest: Täuscht der Eindruck, dass Sie entspannter und zugleich desillusionierter glauben als früher?

Steffensky: Das könnte stimmen. Ich habe mich früher sehr viel mehr mit meinen Zweifeln gequält. Wer glaubt und Gott vertraut, der muss Rechenschaft geben können über dieses Vertrauen. Und das ist mir sehr oft schwergefallen. Inzwischen habe ich aufgehört, meinen Zweifel so ernst zu nehmen, wenn er sich in den Vordergrund drängen und aufspielen will als der einzig Denkbare. Das ist mir jetzt egal. Und das macht vielleicht ein Stück der Heiterkeit aus. Man ist in allem Fragment, man ist auch Glaubensfragment – und kann das auch sein.

Sie haben im Sommer beschrieben, dass Sie einerseits heidnischer werden, andererseits aber die christliche Form immer mehr schätzen. Ist die Weihnachtstradition auch eine solche Art der Gürtung für einen haltloser gewordenen Glauben?

Steffensky: Manchmal ist es ja so, dass nur noch die Form hält. Die Formen schleifen manchmal das müde Herz hinter sich her, bis es wieder auf seinen eigenen Beinen stehen kann. Wenn ich regelmäßig bete oder in den Gottesdienst gehe, sind das Verhaltensformen, die größer sind als ich selbst und mein Glaube. Dass Formen verdummen können, haben wir alle gewusst. Aber dass Formen mein Unvermögen gürten und mich stärker machen können, das lernen wir erst langsam. Meine Generation hat lange darum gekämpft, zu sich selbst zu kommen, die eigene Sprache zu sprechen. Aber wenn man alt wird, weiß man, dass man nicht abendfüllend ist. Und dann macht man die großen Anleihen bei anderen.

Gilt das auch für die Weihnachtsgottesdienste?

Steffensky: Mir gefällt, dass an Weihnachten so viele Menschen in die Kirche gehen, die mit dieser Tradition kaum etwas oder gar nichts mehr zu tun haben. Eine Aufgabe der Kirche ist es, eine Art Hoffnungs- und Bilderverleihanstalt zu sein. Menschen setzen sich für eine Stunde die Masken des Glaubens auf. Und auch das ist eine Form des Glaubens, wenn auch vielleicht eine dünne und karge.

Haben Sie Erwartungen an einen Gottesdienst?

Steffensky: Nein. Der Gottesdienst macht zwar auf Dauer etwas mit mir. Aber bestimmte Erwartungen habe ich nicht. Ein Gottesdienst ist normalerweise langweilig. Was man regelmäßig tut, ist nicht aufregend. Mich interessieren auch die aufregenden Gottesdienste nicht. Mich interessiert das Schwarzbrot eines Gottesdienstes. Es bildet meinen Geist und meine Hoffnung und mein Herz, ohne dass ich es merke.

Woran lesen Sie heute aus der Weihnachtsgeschichte noch Hoffnung ab?

Steffensky: (lange Pause) Ich lese sie in die Weihnachtsgeschichte hinein. Hoffnung ist ja nicht die Garantie eines guten Ausgangs. Sondern man hofft auch, indem man tut, als hoffte man. Wie alles ausgeht, weiß ich nicht: Ich weiß nicht, was aus dieser Welt wird, aus ihrem Wasser und ihrer Luft. Das kann alles ruiniert werden. Die Frage nach der Hoffnung wird oft so lamentös gestellt: Vor jeder Handlung will man zuerst in der Hoffnung versichert sein. Aber das gibt es nicht.

Und wo liegt dann der Wert der Hoffnung?

Steffensky: Der Wert der Hoffnung ist, dass man nicht zynisch wird. Hoffnung heißt, sich zu kümmern und zu sorgen. Man lernt Hoffnung auch durch die Schönheit biblischer Geschichten. Man kann auf Dauer nur glauben, was man schön gefunden hat. Und schön sind diese Geschichten. Vielleicht gibt es auch eine allerletzte Hoffnung, dass Gott das Leben nicht aus seiner Hand fallen lässt. Diese Hoffnung bin ich schon den Opfern schuldig.

Die Weihnachtsgeschichte wirft den Glauben zurück auf das Kleine, das Karge, die Armut, das Randständige. Man könnte glauben, die Kirchen haben gerade fürchterlich Angst, wieder so zu werden. Was kann die Kirche der Gegenwart von der Weihnachtsgeschichte lernen?

Steffensky: Dass es eine aufsässige Geschichte ist. Nicht nur diese Ungehörigkeit, dass Gott Mensch wird. Sondern auch, dass die erste Nachricht nicht zu den Priestern und Herrschern kommt, sondern zu den Hirten, den Subproletariern dieser Zeit. Die Frage ist, ob die Kirche diesen Geist geerbt hat und weiterträgt. Kirche besteht nicht nur aus Widerspruch. Sie besteht auch aus Lob und Dank. Aber eine Kirche, die sich mit der Welt versöhnt hat, ist sicher nicht die Kirche Christi.

Es ist das Recht der Alten, den Traditionen hinterher zu trauern. Sie haben als junger Theologe mit Glaubenstraditionen gebrochen. Welche Traditionen berühren Sie heute?

Steffensky: Fast alle, muss ich sagen. Wir haben in der Tat früher gegen Traditionen gekämpft, weil sie verhängt waren. Wir haben gelernt, ihnen zu kündigen, und merken jetzt erst, wie sehr wir sie brauchen. Gegen sie zu kämpfen, war notwendig, weil wir die Freiheit erwerben mussten, sie zu billigen oder neue zu entwerfen. Aber jetzt bin ich ganz froh, dass es Bräuche gibt, die mich aus meiner Unbestimmtheit herausreißen.

Sorgen Sie sich um die Tradition des Glaubens?

Steffensky: Einerseits glaube ich, dass das Christentum nicht untergehen wird. Andererseits weiß ich, dass das Christentum noch nie das war, was es sein sollte. Was mich oft bekümmert, ist der kulturelle Verlust, der mit dem Verschwinden des Christentums verbunden ist: Bräuche, die Beachtung von Zeiten und Zeichen, die ganzen Schätze der Kirche.

Sie haben in Ihrem Leben sehr viele Ausprägungen christlichen Glaubens gelebt: vom katholischen Mönch über den evangelischen Familienvater und den politischen Kämpfer bis zum poetischen Sprachschöpfer. Würden Sie sagen, dass der Glaube Sie durch alle diese Formen hindurch getragen hat?

Steffensky: Ja – aber nicht allein. Da waren noch eine Anzahl Menschen, die mitgetragen haben. Der Glaube allein kann auch schwach werden, wenn er keine Verbündeten findet. Aber er ist eine der Schönheiten dieses Lebens gewesen.

Hilft er Ihnen auch zu einem angstfreien oder zumindest angstfreieren Alter?

Steffensky: Ich glaube, ja. Er ist eine der Hilfen. Aber wie sollen Menschen, die prekär gelebt haben, die kaum das Nötigste hatten, die Angst hatten vor der Entlassung und vor dem nächsten Tag, wie sollen die angstfrei sterben? Wie können die angstfrei alt werden, ob mit oder ohne Glauben? Es ist schon beinahe ein Wunder, wenn sie sich an den Glauben klammern können. Die Angstlosigkeit hat mit Glauben zu tun, aber nicht allein.