Meinung Religionsfreiheit ist nicht der einzige Wert
Seit vielen Jahren und in immer wieder neuen Gerichtsprozessen geht es um ein kleines Stück Textil — das Kopftuch. Die einen sehen es als ein für sie verpflichtendes religiöses Symbol. Die anderen hingegen als Zeichen der Unterdrückung von Frauen.
Und immer wieder wägen die Gerichte ab, ob die Religionsfreiheit den Vorrang gegenüber anderen Rechten haben soll — dem Recht nämlich, von der religiösen Symbolik unbehelligt zu bleiben. Es ist gut, dass der Europäische Gerichtshof am Dienstag geurteilt hat, dass auch andere Interessen als die Berufung auf den eigenen Glauben ein im Einzelfall größeres Gewicht haben können.
Es ist noch gar nicht so lange her, da ist diese Abwägung vor dem Bundesverfassungsgericht eher misslungen. 2015 hatten die Karlsruher Richter entschieden, dass ein pauschales Kopftuchverbot für Lehrerinnen verfassungswidrig sei. Eine Entscheidung, die der Freiheit von Schülern, die der Symbolik der religiösen Bekundung eben nicht so einfach entkommen können, ganz und gar nicht gerecht wurde. Religionsfreiheit hat nämlich auch eine Kehrseite — die negative Religionsfreiheit. Und damit das „Lass mich damit in Ruhe!“ Dieses Recht müsste — entgegen dem Karlsruher Urteil — besonders da gelten, wo der Bürger keine Ausweichmöglichkeit hat: in der Schule, in Behörden, vor Gericht. Hier sollte sich der Staat neutral zeigen. Beim Vertrauen in diese Neutralität spielt nun mal Symbolik, das nach außen Sichtbare, eine wichtige Rolle.
Doch auch dann, wenn es nicht um dieses Hoheitsverhältnis von Staat zu Bürger geht, im privatrechtlichen Bereich also, ist dies im Ergebnis nicht anders. Auch hier gibt es Argumente, die das Berufen auf das eigene religiöse Weltbild gegenüber widerstreitenden Interessen zurücktreten lassen. Die jetzt vom Europäischen Gerichtshof gefällten Urteile zeigen das.
Es stimmt zwar: Entscheidend ist, wie jemand seinen Job macht. Entscheidend ist, was er im Kopf hat und nicht, was er bzw. sie auf dem Kopf hat. Doch wenn ein Arbeitgeber weltanschaulich neutral auftreten will, dann muss es ihm auch gestattet sein, das Zeigen religiöser Symbole durch seine Angestellten zu verbieten. Natürlich muss er dies dann in einer für alle gleichen und transparenten Regel tun, darf nicht etwa bestimmte Religionen diskriminieren. Die unternehmerische Freiheit jedenfalls ist ein Wert, der nicht per se hinter dem Berufen auf die Religionsfreiheit zurückstehen muss.