Bilder, Romane, Krimis Borussia ist Kunst
Mönchengladbach. · Gladbach-Ikone Günter Netzer hatte schon immer eine enge Bindung zur Kunstszene und war anregend für Intellektuelle. Auch Borussia selbst ist immer wieder ein Thema in Kunst und Literatur.
Dass Borussia museumsreif ist, belegt das klubeigene Museum. In dem gab es von September 2019 bis März 2020 eine Sonderausstellung zu Günter Netzer, dem Spiritus Rector der großen Fohlenelf der 1970er-Jahre. Es war eine Fußballausstellung ebenso wie eine Kunstschau. Die Fotos von Manfred Babucke, der sich Netzer durch die Linse nähern durfte wie kein anderer, schwebten als überdimensionale Dia-Show über der gesamten Darbietung, zudem hatten sich Künstler aus aller Welt mit dem Phänomen Netzer beschäftigt. Netzer selbst hatte immer persönliche Beziehungen in die Kunstszene, beispielsweise durch seine frühere Liaison mit der Goldschmiedin Hannelore Girrulat und die Freundschaft zum Künstler Markus Lüpertz. Der war bei der Eröffnung der Netzer-Ausstellung auch Laudator.
Netzer ist zur Ikone der Fohlenelf geworden, weil er einst zur „Lieblingsfigur der intellektuellen Fußballfans wurde”, wie Helmut Böttiger in seiner Netzer-Biografie schreibt. „Was mir alles erzählt wurde, von der Ästhetik der weiten Pässe, den Visionen des raumöffnenden Zuspiels – so hatte ich ein Spiel noch nie gesehen. Aber es gefiel mir”, notierte Netzer in seiner Autobiografie „Aus der Tiefe des Raumes”. Doch er und Borussia waren nicht nur Anlass für fußballerische und soziologische Diskurse, wie ihn zum Beispiel Holger Jenrich in seinem Buch „Tore, Tränen und Triumphe” führt, sie haben immer wieder Literaten und Künstler inspiriert. Auch in jüngster Zeit.
Zuletzt war es Marcus Thuram, der für ein ikonisches Bild sorgte, als er nach seinem Tor gegen Union Berlin niederkniete und damit den US-Footballer Colin Kaepernick nachahmte, der auf diese Art gegen Rassismus protestierte. Thurams Geste war Vorbild für die gesamte Bundesliga – und für das Berliner Label Hands of God. Das hat es sich zur Aufgabe gemacht, „legendäre Fußball-Momente im puristischen Stil festzuhalten”, wie Mathias Wolf sagt, der Hands of God 2018 mit Elvir Osmankovic gegründet hat. „Black Lives matter“ heißt das Thuram-Motiv. Es wurde in der ersten Auflage auch für den guten Zweck verkauft und nun neu aufgelegt.
Die Illustrationen von Hands of God setzen auf „Wiederkennung und Erinnerung“, es geht um Bilder, die für (eine) Geschichte stehen und darum auf einen Blick mehr als 1000 Worte sagen. Wie das Foto von Netzers Jubelsprung nach dem Siegtor im Pokalfinale 1973 gegen den 1. FC Köln: Netzers Wechsel nach Madrid, sein letztes Gladbach-Spiel, seine Selbsteinwechslung, dann das Siegtor, all das ist die Tiefenstruktur des Fotos. Deswegen ist es ein Teil der „Fohlen Legends”, die Hands of God in einem Kunstwerk versammelt haben.
Inspiriert von Borussia ist auch das Kölner Projekt „Galerie Kunst und Sport“ von Rainer Astor und dem Kunstdrucker Martin Kätelhön. Unter anderem gibt es dort eine Borussia-Collage sowie Hennes Weisweiler im Andy-Warhol-Stil: den Gladbacher Meistertrainer sechsfach in verschiedener Farbkonstellation als Acrylbild und Druck. Weisweiler, der kluge Charakterkopf hinter allem, was Borussia ist, facettenreich, ganz wie er im Leben war.
Auch das Relegations-Tor von Igor de Camargo wurde zum Bildnis. „Es ist ein Bild, das viele Emotionen transportiert”, sagt Rainer Astor. Wie auch die Geschichte hinter dem Tor: Die Rettung und der Raketenstart in eine schöne, neue Borussia-Welt. Eine Szene, die groß genug ist, um ein Kunstwerk zu sein.
Zum Mythos Borussia gehört auch die „Ästhetik des Scheiterns” (Böttiger). „Die Magie der Gladbacher rührt nicht vom Glanz der Siegertypen, sondern vom Scheitern. In diesem Scheitern liegen Utopien, die unaussprechbar sind und einen magischen Sog ausüben”, schreibt Böttiger. Frank Lemke, der in seiner Magisterarbeit 2008 „Fußballmythen in Medien und Literatur am Beispiel von Borussia Mönchengladbach“ untersucht hat, kommt ebenfalls zu dem Schluss: „Auch das ständige Auf und Ab, die zahlreichen grandiosen Siege und vor allem die dramatischen Niederlagen brennen sich in die Herzen der Fußballfans”, resümierte er. Deswegen inspiriert Borussia Mönchengladbach immer wieder Künstler und Schriftsteller.
Es war insbesondere eine magische Nacht in Europa, die zum Paradebeispiel für Borussias Scheitern in Schönheit geworden ist: Das 7:1 im Landesmeisterwettbewerb gegen Inter Mailand am 22. Oktober 1971, das wunderbarste Gladbach-Spiel aller Zeiten, das wegen einer Blechbüchse annulliert wurde. Der Autor Willi Achten, 1958 in Mönchengladbach geboren, hat das Motiv genutzt in seinem Roman „Die wir liebten”. Achten streut Borussia im Verlauf seiner Geschichte immer wieder in den Alltag der Figuren ein. Die Fahrten zum Bökelberg sind für die beiden Brüder, die Protagonisten der Geschichte, die in einem Dorf am Niederrhein spielt, ein Stück heile Welt, weil sie sich so an die Beziehung zum Vater klammern, doch zugleich ist der Verfall schon im Gang.
„Das Glück hielt nur kurze Zeit. Dann wurde unser Sieg gegen Mailand, eine der besten Mannschaften der Welt mit den besten Kontakten zur Uefa, annulliert, und wir sahen Vater mit der Tierärztin auf einer Bank an einem Waldweg sitzen“, heißt es am Schluss des Kapitels. Der Fußball als Allegorie auf das Leben.
Der Vater entschwindet kurz darauf, die Familie zerbricht, die Brüder landen in einem unmenschlich geführten Internat mit einem düsteren Geheimnis. Achten, ein glühender Gladbach-Fan, fängt in seinem lesenswerten Roman die Bilder jener Zeit trefflich ein, seine Beschreibung des Besuchs seiner Helden des 7:0 gegen Schalke 04, das kurz nach dem 7:1 gegen Mailand passierte, ist so berauschend, wie es das Spiel selbst war.
Gladbach-Anhänger ist auch Lukas Pellmann. Der gebürtige Essener lebt in Wien und schreibt interaktive Krimis. „Hängende Spitze” heißt einer, im Mai/Juni 2020 hat der Autor den Krimi vertont, zu hören ist das als Spezialausgabe seines Podcasts “donau.kanal”. Pellmanns Prinzip: Seine Leser können sich an der Entstehung der Krimis über die sozialen Netzwerke beteiligen und selbst ein Teil von ihnen werden. Bei „Hängende Spitze” geht es um den Plastikklub RB Wien, der seine Spieler aus PR-Zwecken nach großen Spielern aus früherer Zeit benennt: So spielen auch Günter Netzer und Berti Vogts dort.
Im Subtext der Geschichte schwingt die Kritik am Zustand des modernen Hochglanz-Fußballs mit – geleitet vom Prinzip des Gladbach-Anhängers. „Als Fan von Borussia Mönchengladbach sehe ich es als bedenkliche Entwicklung an, wenn Unternehmen und Investoren Fußballvereine übernehmen. Haben solche Geschäftsmodelle Erfolg, wird für Traditionsklubs wie Gladbach die Teilnahme an finanziell lukrativen europäischen Bewerben immer unerreichbarer“, sagt Pellmann.
Aktuell erweist sich seine Prognose als Dystopie, denn in der Realität profitiert nicht ein RB-Klub von großen Gladbacher Namen, sondern die Borussen von einem Trainer, der aus dem RB-Universum kommt. Dieser hat Borussia nicht nur in die Champions League geführt, sondern arbeitet auch kräftig daran, mit seinem Team neue Mythen zu schaffen, die auch in Zukunft Kunst und Literatur inspirieren können. Wie Markus Thurams Eckfahnenjubel. Dem hat Hands of God ebenfalls eine Illustration gewidmet.
Was bleibt, ist die Erinnerung an den für Gladbach-Fans schönsten aller Romane-Anfänge: Im Krimi „Ein Mann, ein Mord“ lässt der 2013 verstorbene Jakob Arjouni seinen Helden, Detektiv Kayankaya, „meine Gladbacher Mannschaftsaufstellung für ein Spiel im Jenseits“ aufschreiben: „Borussia im Himmel: Kleff - Vogts, Hannes, Frontzeck - Stielike - Bonhof, Simonsen - Netzer, Heynckes, Jensen, Laumen. Und ich setzte Sieloff, Mill, Kamps und mich auf die Ersatzbank, Weisweiler auf eine Wolke.“ Ewig gut.