Christian Lindner (FDP): Der ruhige Tempomacher

Die Politik in Berlin ist für den FDP-Generalsekretär ein „verrücktes Geschäft“ — bei dem er kräftig mitmischt.

Rhein.-Berg. Kreis/Berlin. Christian Lindner erinnert an einen Passagier in einem ICE, der mit 250 Stundenkilometer über die Schienen rast. Während im Eiltempo Landschaften und Menschen an ihm vorbeiziehen, kann er sich gedanklich abkoppeln und sein eigenes Tempo finden. Der FDP-Politiker schafft es, so etwas wie innere Ruhe auf der hektischen Politikbühne Berlin auszustrahlen.

Allein heute hat Lindner mehr Hände geschüttelt als andere Menschen in einer ganzen Woche. Sechsmal hat der FDP-Generalsekretär seit dem Aufstehen den Ort gewechselt. Es ist 17.30 Uhr, am späten Abend steht noch ein Treffen mit dem Parteikollegen Philipp Rösler an. Mit einer Telefonschalte zum FDP-Vorsitzenden hatte vor zehn Stunden der Tag begonnen. Der Zug rast, Lindner lehnt sich zurück und sagt: „Ich glaube nicht, dass das Geschäft früher so verrückt war.“

Lindners Reise begann im Rheinisch-Bergischen Kreis. Der gebürtige Wermelskirchener ist seit 2002 Vorsitzender der Kreisliberalen. Da hatte er schon mit einem Rekord von sich reden gemacht. Mit 21 Jahren zog er als jüngster Abgeordneter in den Landtag ein. 2004 ist er bereits Generalsekretär der nordrhein-westfälischen FDP. Es folgt der Bundestag und schließlich Ende 2009 der Posten des Generalsekretärs auf Bundesebene.

In diesem Jahr fällt sein Name sogar im Zusammenhang mit dem vakanten Posten des Parteivorsitzenden. Doch nachdem Lindner mit seinem Alter mehrere Rekorde als Jüngster eingefahren hat, zieht er die Reißleine. „Dass ich mit 32 Parteichef werden, war für mich zu jedem Zeitpunkt völlig ausgeschlossen.“

Seit seinem politischen Start im Kreis ist Lindners Welt unentwegt schneller geworden. Das sieht man beispielsweise an der Zahl der E-Mails, die den Liberalen jeden Tag erreichen. Auf der Internetplattform „abgeordnetenwatch.de“ ist Lindner der zweitmeist gefragte Politiker — nur Gregor Gysi hat seit 2009 noch mehr Fragen erhalten und beantwortet. Als Landtagsabgeordneter antwortete Lindner noch innerhalb von 24 Stunden. Jetzt kommen die Anregungen, Fragen und Pöbeleien in solch einer dichten Taktung, dass es eine Woche für die Bearbeitung braucht.

Lindner hat seine ganz eigene Methode, mit unflätigen Kommentaren umzugehen: Wer per E-Mail einen Kübel Unverschämtheiten über ihm ausgießt, den erwartet unter Umständen ein paar Tage später eine große Überraschung. Der Liberale setzt ein süffisantes Lächeln auf: „Die Leute rufe ich einfach an. Das hat den faszinierenden Effekt, dass die Schreiber erst einmal sprachlos sind.“ Allein die Worte „Hallo, hier ist Lindner, Sie haben mir ja geschrieben“ kommen wohl einer vollständigen Entwaffnung gleich. Plötzlich seien die Menschen dann doch ganz empfänglich für Lindners Argumente. Zum Telefon greife der FDP-Politiker jedoch nicht, um seine Gegner bloßzustellen, sondern vielmehr, um ein gesundes Ventil zu haben. „Ich will ja keine Magengeschwüre kriegen.“

Gerade aktuell bedeutet jeder Blick in die Zeitung, jeder Klick im Internet einen potenziellen Tiefschlag für einen liberalen Bundestagsabgeordneten. Die Umfragewerte für die FDP sind im Keller, weit verbreitet ist die Ansicht, dass die Partei beim Thema Atomausstieg durch ihren Kurswechsel unglaubwürdig geworden ist. Die Medienszene in der Hauptstadt sei hart und eine eigene Welt für sich. Das Goldfischglas Berlin, der 32-Jährige glaubt, dass auch die Journalisten in ihm gefangen sind. „Es kommt in den Medien häufig gar nicht mehr auf den Sachverhalt an, sondern nur noch auf das Spinning.“ Damit meint er den Dreh, den Journalisten seiner Meinung nach ein paar gesagten Sätzen geben können. Auf Landesebene habe er das in dieser Form noch nicht erlebt.

Dort wurde er politisch sozialisiert. Wie man sich am Rednerpult präsentiert, habe er im Landtag gelernt. „Manchmal musste ich fünf Reden in der Woche halten“, berichtet der damalige NRW-Generalsekretär der FDP. Düsseldorf sei eine gute Schule gewesen. Auch was Improvisation angehe. Da gab es so ein Spiel unter den Abgeordneten, wenn die Uhrzeit im Landtag später und die Sitzreihen leerer wurden. Der Sitznachbar sagt ein absurdes Wort — etwa „Elefantentreppe“ — und der nächste Redner muss versuchen, dieses in den Vortrag einzubauen.

Daraus lässt sich wohl ableiten, dass Politiker ähnliches Improvisationstalent haben wie die Comedy-Truppe der TV-Sendung „Schillerstraße“. Lindner, ganz bewusst, wie schnell so eine Geschichte den falschen Dreh bekommen kann, fügt hinzu: „Etwas Humor, Sportlichkeit und Selbstironie schaden nicht. Manchmal hilft das auch bei schwierigen Themen.“

Heute ist seine Aufgabe als Generalsekretär nicht mehr, täglich Reden zu halten, sondern viel mehr das große Ganze im Auge zu behalten. Der Wermelskirchener drückt es so aus: „Meine Rolle ist FDP pur.“ Dazu gehöre es auch einmal, „der Kanzlerin auf die Nerven zu gehen“. Dabei hatte er sich noch im September 2009 — als er gerade frisch im Bundestag war, aber noch nicht die verantwortungsvolle Position auf Bundesebene hatte — in unserer Zeitung auf mehr Detailarbeit gefreut.

Jetzt ist wieder kein Platz mehr für die „Arbeit mit der Nagelfeile“, wie Lindner es nennt. Strategische Leitlinien sind sein Tagesgeschäft. Aber irgendwann möchte er gerne wieder zu den Details zurück. Irgendwann wird er aus dem Schnellzug aussteigen, der sein jetziger Alltag ist. „Das heißt nicht, dass ich mein Amt morgen abgeben möchte.“

Er wirkt überzeugend. Denn trotz allem Stress, den E-Mails und der schwierigen Medienlandschaft: Lindner schafft es am Ende, wie einer zu wirken, der sich gerade überhaupt nicht beschwert hat. Seine Ausführungen könnten auch ein Reisebericht sein. Darüber, wie es ist, mit 250 Stundenkilometern durch den Tag zu rasen und doch sitzen zu bleiben.