„Paris brennt - Köln pennt“
Der Politologe Claus Leggewie blickt nach 50 Jahren zurück auf die 68er-Generation am Rhein, in Deutschland und in der Welt.
Köln. „Paris brennt — Köln pennt“ - an das ungelenke Gekritzel, das im Mai 1968 am Pult eines Hörsaals der Kölner Uni zu finden war, kann sich der renommierte Politologe Claus Leggewie noch gut erinnern. Dabei hat die von Berkeley und Berlin ausgehende Revolte die Domstadt schon längst erreicht. „Ein unruhiges Semester hat begonnen, als die Barrikadenbilder aus dem Quartier Latin über den Bildschirm flimmerten und sich manche bei noch mäßigen Temperaturen nach einem Sommer der Anarchie sehnten“, schreibt Leggewie 50 Jahre nach den 68ern. Er selbst hatte gerade sein Abi im Kölner Apostelngymnasium bestanden, ging später zur Uni und beobachtete die Geschehnisse aber „eher von der Seitenlinie aus“.
In seinem Buch „50 Jahre ‘68“ blickt er zurück, ordnet die Geschehnisse am Rhein in den nationalen und europäischen Kontext ein und verbindet diese mit der Gegenwart. Es geht darum „wie die Revolte westliche Demokratien voranbrachte, wo sie ins Leere zielte oder komplett in die Irre ging und welche unbeabsichtigten Folgen sie zeitigte“.
Auch wenn Köln „keinen Rudi Dutschke hervorgebracht und keinen roten Dany aufgenommen hat, traten hier markante Kollektive und Individuen auf.“ Es ging um eine lebendige, mainstreamfähige Subkultur, die Einübung demokratischer Mitbestimmung und Ansätze einer alternativen Wohlfahrtsökonomie, schreibt der Autor. Gerüchte, dass die Stadt anders als die Aktionshauptstadt an der Spree und dem Theorietank am Main nur „ein Mauerblümchen des Protestes“ oder „ein gemütliches Lagerfeuer“ war, weißt Leggewie als „glatte Fehlinterpretion“ zurück.
Ein Unruheherd wie die Hochburgen des SDS an der Freien Universität Berlin oder in Frankfurt war Köln nie, auch wenn es an der Kölner Uni Streiks, Rektoratsbesetzungen und Hörsaalblockaden gab, mit deren Hilfe man die Hochschule zu einer kritischen und demokratischeren Universität verwandeln wollte. Von einer kurzen Zeit 1968 abgesehen, bestimmten konservative Gruppierungen wie die Kölner Studentenunion (KSU) und der Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) den AStA. Geebnet wurde in dieser Zeit vor allem der Weg zur heutigen Massenuniversität.
Deutlich mehr Bewegung gab es seit der 68er-Bewegung aber für die Kulturlandschaft am Rhein. In Sachen Pop- und Subkultur bildete hier Köln zusammen mit Düsseldorf und München eine „nationale Avantgarde“. Systematisch dafür ist die Kölner Band Can, die als Vorreiter des progressiven Rocks in Deutschland wirkte. Es gibt noch viele weitere Künstler die hier genannt werden können, wie der Fluxus-Künstler Wolf Vostell, der Literat Günter Wallraff oder der Beat-Poet Dieter Brinkmann.
Schwer hatte es die Frauenbewegung im katholisch-konservativen Köln, auch wenn am heutigen Sitz der „Emma“-Redaktion mit Alice Schwarzer an der Spitze Organisationen wie die Aktion „Paragraph 218“ zu Thema Abtreibung gegründet worden sind. An die liberale Haltung vor der Nazi-Diktatur konnte die Bewegung der Schwulen und Lesben erst nach der 68er-Zeit in den 70er Jahren wieder anknüpfen.
Bei der Aufarbeitung der Vergangenheit im Dritten Reich tat man sich am Rhein zunächst schwer. Sah man sich doch, wie man heute weiß, irrtümlich als Hort des Widerstands, weil man sich genauso gleichschalten ließ wie andere Städte. Zu den Wortführern in Sachen Vergangenheit galt unter anderem Kurt Holl, dem es mit zu verdanken ist, dass das El-De-Haus mit seinem Gestapogefängnis heute als NS-Dokumentationszentrum eine Gedenkstätte geworden ist. Um so bedenklicher stimmte es da, wenn rechte Kräfte mit ProKöln, AfD und den Hooligans von Hogesa teils martialisch in der Stadt auftreten, auch wenn sich Gruppen wie „Köln gegen Rechts“ oder „Arsch huh, Zäng ussenander“ engagiert dagegenstellen.
Was die internationale Bewegung der 68er gegen den Vietnam-Krieg angeht, gab es in Köln heftige Auseinandersetzungen wie 1970 die „Schlacht vor dem Amerikahaus“. Köln war zudem ein Inkubator der Front de Libération Nationale (FLN), der algerischen Befreiungsfront, die aus der Friedensbewegung heraus entstanden war und die vom SPD-Politiker Hans-Jürgen Wischnewski koordiniert wurde, der 1969 als Staatsminister bei einem Besuch an der Kölner Opfer von Eierwürfen von Seiten der Linken wurde.
Was Gewalt und Gegengewalt nach dem Tod von Benno Ohnesorg bei den „Osterunruhen“ anging, gab es in Köln nur selten militante Auseinandersetzungen. Ausnahmen waren zum Beispiel die Proteste mit Bahnblockaden von mehreren 1000 Schülern und Studenten 1966 gegen die Tariferhöhungen der KVB, für die der damalige AStA-Vorsitzende Klaus Laepple zur Verantwortung gezogen wurde. Im Gedächtnis geblieben ist auch die brutale Entführung des Arbeitgeberchefs Hanns Martin Schleyers 1977 durch die RAF in Lindenthal.
Hier zeigt der Autor aktuelle Bezüge zum Beispiel zu den gewaltsamen Ausschreitungen in Hamburg 2017 oder die Nutzung der verdrehten 68er-Methoden mit einem verschrobenen Weltbild durch die Neue Rechte in Deutschland, bei dem ethische und religiöse Minderheiten und emanzipierte Frauen und Homosexuelle zunehmend wieder ins Visier geraten. Auch die #MeToo-Kampagne, das Auseinandergehen der Schere zwischen Arm und Reich oder eine Uni im Dauermodus der Reform zeigen bis heute den Handlungsbedarf auf.
Claus Leggewie: 50 Jahre ‘68 — Köln und seine Protestgeschichte, Greven-Verlag, 112 Seiten, zehn Euro.