Urin, Streit und Müll: Eine Karnevalshochburg hadert mit dem Karneval
Der Karneval steht vor der Tür, doch ausgerechnet in der Schunkel-Hochburg Köln rumort es. 2017 waren die Exzesse auf den Straßen so schlimm, dass viele sagen: So geht es nicht mehr.
Die Kölner Sinnkrise zeigt auch, was Bürger heute von Städten erwarten. Köln. Maureen Wolf vergleicht es mit dem Ansturm einer Horde Untoter.
Als sie am 11. November - dem elften Elften - aus dem Fenster ihrer Gaststätte „Bei Oma Kleinmann“ geschaut habe, sei es wie bei „The Walking Dead“ gewesen, einer US-Zombieserie: Schwankende Gestalten, nicht mehr Herr ihrer Sinne. „Die verrichten da draußen mittlerweile einfach alle Geschäfte. Es geht schon lange nicht mehr nur um das Pinkeln“, sagt Wolf. „Wenn wir morgens kommen, liegen die schon in den Hauseingängen in ihrem Erbrochenen.“ Man könnte an dieser Stelle hinzufügen: Willkommen im Kölner Karneval!
Der 11. November ist der traditionelle Auftakt für die Karnevalszeit, die in den kommenden Tagen mit Weiberfastnacht (8. Februar), Karnevalssonntag (11. Februar) und Rosenmontag (12. Februar) ihren Höhepunkt erreicht. Das Fest gehört in vielen Regionen Deutschlands zum festen Kulturgut, vor allem in Köln, einer Millionenstadt mit Konfetti in den Blutadern. Doch spätestens seit dem 11. November 2017 rumort es gewaltig in der Schunkel-Metropole.
Auslöser waren die überbordenden Exzesse am elften Elften. Menschen betranken sich hemmungslos, pinkelten in großer Zahl in jede freie Ecke, erbrachen sich, hinterließen Müllberge oder lagen als Schnapsleiche dazwischen. Die Kölner Verkehrs-Betriebe (KVB) mussten zeitweise den Betrieb stoppen, weil Menschen auf den Gleisen waren.
Man könnte entgegnen: Das ist doch nix Neues. Aber viele Kölner sind der Meinung: So schlimm war es noch nie. Und es müsse sich ändern. So denkt auch Wirtin Wolf aus der Zülpicher Straße, einem Ausgehviertel, in dem es besonders heftig war. „Hier spielen so viele Probleme ineinander“, sagt Claudia Uerlich von der örtlichen Interessengemeinschaft „Kwartier Latäng“. Es sind zu viele Menschen, die an Karneval kommen und mit ihnen kommen Urin, Streit, Müll.
Auf der Suche nach den Gründen für die Eskalation am elften Elften gilt als Argument, dass der Tag auf einen Samstag fiel. Viele Leute hatten Zeit, viele wollten nach Köln. Aus Sicht des Psychologen Stephan Grünewald wirkte das zusammen mit einem allgemeinen Phänomen, dem Trend zum Draußenfeiern. „Draußen ist man ganz anders wild“, erklärt er. Und warum ausgerechnet Köln? Nun, sagt Grünewald, es sei auffällig, dass sich die schlimmsten Exzesse an Stellen ereigneten, die „ziemlich verwahrlost“ gewesen seien. Vom öffentlichen Raum gehe dann „keine erzieherische Wirkung aus. Nach dem Motto: Ist der Ruf erst ruiniert, uriniert es sich völlig ungeniert.“
Für den Rest der Republik dürfte es gleichwohl skurril wirken, dass Köln plötzlich mit seinem Karneval hadert. Grünewald, Leiter des Marktforschungsinstituts Rheingold, wundert sich weniger. Gerade Köln sei sensibler geworden. „Vor neun Jahren stürzte das Stadtarchiv ein, dann gab es die Silvesternacht mit sexuellen Gewalt- und Diebstahlexzessen“, sagt er. „Man fragt sich heute: Ist Köln ein verlässlicher und stabiler Grund? Die Stadt will Stabilität. Und da haut es voll rein, wenn der kultivierte Überschwang, den Köln immer konnte, in das komplett Archaische abrutscht.“
Die kölsche Karnevalsdepression weist dabei weit über die Grenzen der Stadt hinaus. „Ich glaube, die Menschen haben heute einen höheren Anspruch an die öffentliche Ordnung“, sagt die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos). Einfach laufen lassen und hoffen, dass es gut wird - für viele Menschen ist das keine Option mehr. Auch wenn Reker klarstellt: „Wir hadern nicht mit dem Karneval. Wir hadern mit denen, die ihn nicht verstehen.“
Nach dem elften Elften sprach sich die Oberbürgermeisterin für einen „Runden Tisch“ mit Vertretern von Kölner Karneval, Stadtgesellschaft und Behörden aus, um die Zustände in den Griff zu kriegen. Herausgekommen sind mehr Sicherheitsmaßnahmen, mehr Absperrungen gegen Überfüllung, mehr organisiertes Programm und neue Regeln für Bierbuden. „Unsere Analyse war: Dort, wo es außer Alkohol kein anderes Angebot gab, gab es die meisten Probleme“, sagt Reker.
Die Stadt baut zudem ihr Toilettenangebot auf rund 700 aus - vorher waren es 80. „Wer nicht auf die Toilette geht, hat künftig keine Entschuldigung mehr. Keine“, gab der Leiter des Amtes für öffentliche Ordnung, Engelbert Rummel, als Parole aus.
Es wird aber eine Gratwanderung. „Eine Art Polizeistaat können die Kölner nicht“, sagt Psychologe Grünewald. „Dafür müssten sie wieder unter preußische oder eine anders geartete Fremdherrschaft fallen.“