Corona-Folgen Wenn Corona auf die Psyche schlägt
Düsseldorf · Die gesetzlichen Krankenkassen registrieren mehr Fälle psychischer Krankheiten. Die ohnehin schon hohe Zahl der Betroffenen steigt weiter.
Das Coronavirus hat nicht nur wegen der damit direkt zusammenhängenden Krankheiten und deren teilweise schweren Folgen Einfluss auf die Gesundheit. Die ergriffenen Maßnahmen, die dadurch ausgelösten wirtschaftlichen Probleme und die soziale Isolierung ziehen auch psychische Folgeschäden nach sich. Das bestätigen die Krankenkassen.
Die Barmer Ersatzkasse verarbeitet die anonymisierten Daten von bundesweit 3,8 Millionen Erwerbstätigen, die bei der gesetzlichen Krankenkasse versichert sind – das entspricht rund elf Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Heiner Beckmann ist Landesgeschäftsführer der Barmer Ersatzkasse (BEK) und hat einen guten Überblick über die Entwicklung psychischer Krankheiten. Im Gespräch mit dieser Zeitung hat er die gerade auch in unserer Region bedenklichen Entwicklungen erklärt.
Erwachsene – die Zeit vor Corona
Schon vor der Pandemie – der aktuelle Gesundheitsreport 2020 der BEK hat die Daten aus den Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen von 2019 zur Grundlage – lagen psychische Erkrankungen als Ursache für Fehlzeiten mit 19,9 Prozent auf Platz zwei hinter den Muskel-Skelett-Erkrankungen (21,8 Prozent). Mit seit Jahren steigender Tendenz. In NRW liegt der Anteil der psychischen Erkrankungen sogar bei 21,3 Prozent. Dabei fallen Arbeitnehmer mit einer entsprechenden Diagnose am längsten aus, nämlich für 45 Arbeitstage. Und damit länger als bei Krebserkrankungen (40,2 Tage).
Bei den psychischen Erkrankungen sind Frauen deutlich häufiger betroffen als Männer. Bemerkenswert ist auch, welche Branchen besonders betroffen sind von psychischen Erkrankungen ihrer Arbeitnehmer. Negativer Spitzenreiter ist hier das Sozialwesen, also Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in der Kinderbetreuung und Altenpflege, Erziehung oder Unterricht. Im Mittelfeld liegen Arbeitnehmer aus dem Bereich der Finanzdienstleitungen, der Verwaltung oder dem Einzelhandel. Am wenigsten unter Ausfall von Arbeitstagen wegen psychischer Erkrankungen hat das Baugewerbe zu leiden.
NRW liegt bei den ausgefallenen Arbeitstagen wegen psychischen Erkrankungen 6,2 Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Deutlich über dem Bundesdurchschnitt liegen gerade die Städte und Kreise in unserer Region. So gibt es in Mönchengladbach 28,3 Prozent mehr Arbeitsunfähigkeitstage als im Bundesschnitt. In Wuppertal liegt der Wert um 19,9 Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Solingen: plus 20,6, Remscheid: plus 18,7, Krefeld: plus 17,4 Prozent, Kreis Mettmann: plus 12,5 Prozent, Düsseldorf plus 1,3 Prozent.
Erwachsene – die Coronazeit
All dies sind wie gesagt Daten aus der Zeit vor Corona, die neueren werden erst im Herbst erwartet. Im Vorgriff hat die Barmer aber schon mal ein Zwischenergebnis erstellt, wie sich die Zahlen der Arbeitsunfähigkeitstage im Jahr 2020 gegenüber 2019 entwickelt haben. Hier gab es im Bereich der psychischen Erkrankungen und der dadurch entstandenen Arbeitsunfähigkeitstage im Bund einen Anstieg um 1,4 Prozent, in NRW fiel er mit 1,6 Prozent etwas höher aus. Speziell auch wieder in den Städten und Kreisen der Region ist ein überproportionaler Anstieg festzustellen. Allerdings liegen diese Werte unter den Steigerungswerten von 2018 auf 2019. Damals betrug die Steigerung sogar 4,6 Prozent.
Wie interpretiert BEK-Landesgeschäftsführer Heiner Beckmann diese Daten? Er formuliert noch vorsichtig: „Es ist nicht auszuschließen, dass Corona aufgrund der Einschränkungen im sozialen Miteinander zu mehr psychischen Problemen bei den Versicherten führt.“ Eigentlich, so sagt er, müssten die Anstiege im Vergleich zu 2019 aufgrund der Pandemie aber größer sein. Dass dies nicht so ist, könne daran liegen, dass viele womöglich aus Angst vor einer Corona-Infektion einen Arztbesuch meiden. Eben davor warnt der BEK-Chef jedoch: „Arztbesuche sollten nicht aus Angst vor Corona aufgeschoben werden.“ Das gelte für psychische Leiden, aber auch für alle anderen Anzeichen von Krankheit und auch für Vorsorgeuntersuchungen.
Jugendliche – die Zeit vor Corona
Über psychische Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen kann der Report keine Aussage treffen, da dieser sich ja nur auf die Arbeitsunfähigkeitstage von Beschäftigten bezieht. Dennoch kann die BEK auch hier auf Daten zurückgreifen. Nämlich die aus dem Arztreport, basierend auf den Behandlungen, Diagnosen und Abrechnungen der Ärzte. Schon rückblickend auf die Arztreporte der vergangenen Jahre, also vor Corona, so sagt es Heiner Beckmann, habe sich innerhalb von elf Jahren die Zahl der jungen Patientinnen und Patienten in der Psychotherapie mehr als verdoppelt; 2019 benötigten rund 823 000 Kinder und Jugendliche psychotherapeutische Hilfe; das entspricht einem Plus von 104 Prozent gegenüber 2009.
In NRW nahmen 2019 rund 208 000 Kinder und Jugendliche psychotherapeutische Hilfe in Anspruch. Im Vergleich zu 2009 ist das ein Zuwachs von 119 Prozent. Nach Berlin hat hier NRW den höchsten Anteil an jungen Patienten. Jungen sind dabei vorrangig im Alter um zehn bzw. elf Jahren von psychischen Problemen betroffen. Mädchen meist erst im Alter um 17 Jahre. Insgesamt liegen die Werte bei jungen Frauen über denen der jungen Männer.
Jugendliche – die Coronazeit
Die Corona-Pandemie mit der damit verbundenen Isolation verschärft die Lage bei Kindern und Jugendlichen noch mal zusätzlich. Laut Daten der BEK ist die Zahl der Antragstellungen für psychotherapeutische Akutbehandlungen bzw. erstmalige Therapien bei Kindern und Jugendlichen deutlich stärker gestiegen als „üblich“, und zwar um 6,3 Prozent im Vergleich zu 2019 auf mehr als 44 000. Insbesondere im vierten Quartal 2020 gab es deutlich mehr Anträge (plus 12,6 Prozent). NRW-Zahlen gibt es hier noch nicht. Heiner Beckmann: „Die Daten bei den Antragstellungen lassen darauf schließen, dass die Phase des zweiten Lockdowns in der zweiten Welle der Pandemie den Kindern und Jugendlichen deutlich stärker zusetzt als die Ereignisse in der ersten Welle.“ Die Corona-Pandemie hinterlasse besonders bei den jungen Menschen Spuren, die ohnehin schon psychisch angeschlagen sind. Hier sei eine schnelle und unkomplizierte Hilfe besonders wichtig. Eltern und Bezugspersonen sollten auf Alarmsignale, auf Veränderungen achten. Zeitnahe Hilfe und Prävention können viel dazu beitragen, dass die Probleme nicht entstehen bzw. sich verstetigen.
Zwar ist die Anzahl an Psychotherapeuten speziell auch für Kinder und Jugendliche in den vergangenen Jahren gestiegen. Dennoch sind Wartezeiten von einem, manchmal auch mehr als drei Monaten auf einen Therapieplatz weiterhin Realität. Um diese Wartezeiten in der Zukunft zu verkürzen, schlägt die Barmer Anreize vergleichbar zur „Landarztquote“ und den Ausbau digitaler Angebote wie Videosprechstunden vor. Die BEK unterstützt auch das Portal www.krisenchat.de; hier können sich Jugendliche schnell und unkompliziert an geschulte Psychologinnen und Psychologen wenden.