„Die Justiz ist das Rückgrat der Gesellschaft“ Was ein Stillstand der Rechtspflege bedeuten würde

Düsseldorf · Die Justiz fährt ihr Programm in der Coronakrise drastisch zurück. Ein Anwalt warnt vor dem Stillstand der Rechtspflege und seinen Folgen.

Die Justitia-Figur vor Aktenbergen. Diese werden in den nächsten Wochen noch anwachsen.

Foto: dpa/Britta Pedersen

Auch die Justiz fährt in Corona-Krisenzeiten ihr Programm stark herunter. Der Richterbund und die Verwaltungsrichtervereinigung begrüßen die von NRW-Justizminister Peter Biesenbach (CDU) angestoßenen Maßnahmen (Infokasten). Der hatte gemahnt: „Vor dem Hintergrund der dynamischen Entwicklung des Coronavirus sind Maßnahmen erforderlich, wie wir sie bisher nie getroffen haben.“

Wenn jeder seinen Beitrag leiste, könne die Funktionsfähigkeit der Gerichte und Staatsanwaltschaften aber aufrechterhalten bleiben „und der Rechtsstaat auch in dieser Ausnahmesituation seine Kraft und Stärke zeigen“. Christian Friehoff, Chef des Richterbunds, weiß: „Es ist zwangsläufig, dass durch die Verschiebung von Terminen in allen Gerichtszweigen Rückstände auflaufen werden.“ Das sei aber jetzt in Kauf zu nehmen.

Ohne Justiz geriete der Rechtsstaat schnell ins Wanken

Der Düsseldorfer Rechtsanwalt Udo Vetter.

Foto: Udo Vetter/GIULIO COSCIA

Aber was sind die Folgen für den Rechtsstaat? Udo Vetter wird bei diesem Thema nachdenklich. Dass der Düsseldorfer Strafverteidiger in den nächsten fünf Wochen keine Gerichtstermine hat, betrifft ihn zwar auch persönlich, aber das könne er verschmerzen, sagt er. Für viel gravierender hält er, was da noch kommen kann, wenn die Krise die Justiz in stärkerem Maße lahmlegen sollte. Wenn es sogar zu dem kommen würde, was schon ein wenig apokalyptisch als „Stillstand der Rechtspflege“ bezeichnet wird.

Noch hat die Sache eher Vetters Mandanten in die Hände gespielt. Im Rahmen der geltenden Gesetze würden Richter, um ein Anwachsen der Aktenberge zu verhindern, strafrechtliche Verfahren ohne Hauptverhandlung abschließen, sagt er. Und mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft einstellen. Der Spielraum dafür, so sein Eindruck, sei bereits von der Justiz erweitert worden. „Bei kleineren Straftaten, bei denen man sonst gegenüber der Staatsanwaltschaft auf Beton stößt und diese auf der Durchführung einer Hauptverhandlung besteht, gibt es jetzt auch schon mal eine Einstellung des Verfahrens. Allerdings gegen saftige Geldzahlung.“

So hatte einer seiner Mandanten einen Rentner angefahren, der dabei mittelschwer verletzt wurde – Schulterprellung, 14 Tage krankgeschrieben. Der Vorwurf: fahrlässige Körperverletzung. „Ein solcher Fall würde unter normalen Umständen nicht ohne Hauptverhandlung abgeschlossen“, sagt Vetter. Hier aber wurde das Verfahren ohne Verhandlung eingestellt, der Beschuldigte zahlte 3000 Euro Schmerzensgeld an den Geschädigten.

Vetter findet eine solche Verfahrensweise nicht etwa nur deshalb richtig, weil sie seinem Mandanten nützt. Das schaffe auch Kapazitäten. „Es ist wichtig, in diesen Zeiten den Stillstand der Rechtspflege zu verhindern“, sagt er. Im strafrechtlichen Bereich gehe es um nicht weniger als Recht und Ordnung. Vetter: „Angenommen, es kommt zu einer Ausgangssperre. Die kann nur durchgesetzt werden, wenn denen, die sich darüber hinwegsetzen, zum Beispiel im Wiederholungsfall Bußgeld droht. Doch ohne Justiz lässt sich das doch gar nicht durchsetzen.“ Lege der Betroffene gegen einen entsprechenden Bescheid Einspruch ein, so habe er nichts zu befürchten. „Wenn es keinen Richter gibt, weil die Gerichte geschlossen haben, dann lässt sich das nicht durchsetzen.“

Auch im Zivilrecht drohen dramatische Folgen

Auch polizeiliche Gewalt funktioniere nicht ohne Rückhalt durch die Justiz, sagt Vetter. „Nehmen wir an, eine Ausgangssperre führt zum Anstieg häuslicher Gewalt. Wenn dann die Polizei kommt, bedarf es doch danach für weitere Maßnahmen einer richterlichen Anordnung. Die Polizei allein kann niemanden dauerhaft festhalten.“

Im Zivilrecht wären die Folgen eines Stillstands der Rechtspflege ebenfalls dramatisch. Vetter: „Unsere gesamte Wirtschaft beruht auch darauf, dass Leute, die ihre Schulden nicht bezahlen, vor Gericht dazu verknackt werden. Wenn aber Zivilprozesse nicht mehr stattfinden, dann wissen doch alle, die Schulden haben und diese nicht bezahlen: Mir passiert jetzt erst mal gar nichts. Weil kein Richter da ist.“

Vetter bildet ein Beispiel: Ein Vermieter hat eine Wohnung an einen Kellner vermietet. Der verliert wegen der Restaurantschließung seinen Job, hat kein Geld mehr. Und spart sich die Miete. Der Vermieter, der seinerseits von den Mieteinnahmen lebt, hat keine Chance, ohne Justiz seine Ansprüche durchzusetzen.

„Eine funktionierende Justiz ist, sowohl was Recht und Ordnung als auch die Wirtschaft angeht, das Rückgrat unser Gesellschaft“, betont Vetter. Die Justiz sei durchaus systemrelevant. Es brauche dringend Richter, Staatsanwälte, Polizisten. Auch Anwälte, die die Rechte der Menschen vor Gericht vertreten. Und die, wie der Jurist betont, gerade in Krisensituationen verhindern, „dass man in einen Willkür- oder Unrechtsstaat abgleitet“.