Serie „Die EU und ich“ Was die EU für eine Reiseleiterin aus Köln bedeutet

Köln · „Die EU und ich“: Die 49-Jährige ist seit über 20 Jahren Reiseleiterin. Sie hat gesehen, wie Grenzen im Baltikum entstanden und verschwanden. Nun harrt sie dem Brexit.

Annett Schaffrath in einer Stadt, die fast schon zweites Zuhause ist: London.

Foto: Annett Schaffrath

Wenn Annett Schaffrath gefragt wird, was für sie die EU bedeutet, muss sie ausgerechnet an Armenien denken. Zur Sicherheit: Das ist kein Mitgliedsstaat. Aber die Bedeutung der europäischen Grenzenlosigkeit wurde der Kölnerin mal schlagartig bewusst, als sie in dem Kaukasusstaat vor dem wichtigen Kloster Chor Virap stand, auf den schneebedeckten Ararat schaute – und auf den Grenzzaun mit seinen Wachtürmen dazwischen, der jenen heiligen Berg, das Nationalsymbol, für die Armenier unerreichbar macht, weil er auf türkischem Gebiet steht. Und als sie dieses Prinzip der abgeschotteten Grenzen zwischen Nachbarn ihrer europäischen Reisegruppe zu vermitteln suchte. „Ich fühlte mich, als würde ich Farbenblinden Farbe erklären“, sagt die Reiseleiterin. „Und freute mich, dass es so schwierig war. Das bedeutet für mich Europa.“

Die Menschen in unserer Region können sich schwerlich an Zeiten erinnern, als sie beim Wochenendtrip zum Kaffeekauf in Venlo noch den Pass zeigen mussten. Annett Schaffrath hingegen hat in mehr als 20 Jahren, die sie Studienreisen für den Veranstalter Studiosus leitet, so manche Grenzerfahrung gemacht. Eine ihrer Spezialitäten sind Wandertouren durch das Baltikum. Dort erlebte sie in den 90ern, wie zwischen den ehemaligen Mitgliedern der Sowjetunion und mitten durch Familien und Nachbarschaften künstlich Grenzen hochgezogen wurden. Sie erinnert sich, wie einst am Übergang zwischen Litauen und Lettland ein Auto vor ihrem Reisebus kontrolliert wurde und die Fahrerin den Kofferraum öffnete – der voll Torten und anderem selbstgezauberten Essen war. Tagelang hatte die Frau für den 80. Geburtstag ihrer Mutter auf der anderen Seite der Grenze gekocht und gebacken. Dass es nun Regelungen für Lebensmittelexporte gab, wusste sie nicht. „Die Zöllner nahmen alles raus und kippten es in den Straßengraben. Die Frau stand daneben und weinte“, berichtet Schaffrath.

Nach dem Brexit-Referendum weinte die Frau an der Rezeption

Aber so hatte es zu sein. Es musste Regeln geben. Und Kontrolle. Wenigstens ein Mindestmaß. An der Grenze stieg damals immer ein Zöllner in den Studiosus-Bus und alle sollten ihre Reisepässe in die Luft halten. Wehe, da war mal ein hellroter aus der Schweiz dabei. Woher der denn sei. Schweiz? Ist das EU? Schaffrath hatte ihre Touristen zuvor gebrieft, so dass die gleich riefen: „Yes, yes!“ Bei der Erinnerung lacht die Kölnerin: „Wir haben innerhalb von zwei Sekunden die Schweiz in die EU eingemeindet. Aber ich wusste, das dauert sonst alles ewig.“

Und dann kam die Osterweiterung der EU – die noch jungen Grenzen verschwanden wieder. Ebenso die nationalen Währungen, um die die ehemaligen Sowjetstaaten so lange gerungen hatten. Jetzt muss Annett Schaffrath im Bus laut rufen, wenn eine innereuropäische Grenze übertreten wird, damit ihre Gruppe das registriert. Und estnische Kronen als historische Anschauungsstücke herumzeigen. Was die Menschen in Litauen, Lettland, Estland binnen einer halben Generation an Grenzauf- und -abbau erlebt haben, kann sie den Reisenden dennoch kaum nahebringen. Da hat sie einen speziellen Blickwinkel.

Und nicht nur da. Auch ganz aktuell beim Brexit. Denn gerade jetzt geht Annett Schaffrath in ihre Saison der Englandreisen – nachdem sie wie immer in Australien überwintert und in Köln mal eben umgepackt hat. Zuerst zwei Städtereisen London. Dort, wo für sie alles begann, nachdem sie vor überfüllten Hörsälen in Deutschland geflüchtet war, in der englischen Hauptstadt Slavistik studierte und schließlich erste Busreisen übernahm. „Im letzten Jahr war der Brexit immer noch nicht so nah. Ich bin nervös, wie es sich jetzt anfühlen wird.“

Und schließlich ist es für sie vor allem das: eine Gefühlssache. Begreifen und erklären kann sie den Brexit bis heute nicht. Nicht einmal, warum der wahnsinnig nette Besitzer des kleinen Tearoom in einem Dorf in Cornwall, wo sie auf ihren Wandertouren seit Jahr und Tag einkehrt und mit inniger Umarmung begrüßt wird, damals plötzlich ein riesiges Schild im Schaufenster hatte: „Vote leave!“ (Wählt den Austritt) Ihr sagte er, er wolle sie und ihre Gruppe weiter da haben, Großbritannien brauche den Tourismus und Europa – aber dazugehören müsse man dazu doch nicht. „Ich habe Enttäuschung gefühlt“, gibt Annett Schaffrath zu. „Aber ich gehe immer noch zu ihm – es sind nun einmal die besten Scones im Süden Englands!“ Und die Umarmung gibt es weiterhin.

Es sind nicht die großen politischen Leitlinien, sondern solche persönlichen Begebenheiten, mit denen die Reiseleiterin sich und ihren Reisenden die Welt erklärt. Ebenso wenig wird sie die Nacht des Brexit-Referendums vergessen, die sie in einem Hotel in Bristol und fast vollständig vor dem Fernseher zubrachte. Am nächsten Morgen kam sie zur Rezeption, an der eine junge Portugiesin stand und spontan in Tränen ausbrach. „Das habe ich seither nicht nur einmal erlebt.“ Der Tourismussektor im Königreich habe massiv um Fachkräfte aus dem Süden und Osten der EU geworben; um junge und fleißige Menschen, die hart arbeiten und eine echte Perspektive für sich auf der Insel gesucht haben.

Und die jetzt erkennen, dass man sie nicht wirklich haben will. Dass selbst ihre Freunde zum Teil dafür votiert haben, ihnen die Arbeitsgrundlage zu entziehen. „Plötzlich sind viele der Gesichter, die ich seit Jahren immer wieder in den Hotels gesehen habe, weg“, berichtet Schaffrath. Auf die Erniedrigung einer Ausweisung wollen viele nicht warten und kehren ihrerseits den Briten den Rücken.

Auch für die Studiosus-Reiseleiterin ist vieles unklar. Wird es nach dem britischen Austritt sein wie vor dem lettischen Beitritt, als sie in Riga nur im Bus sprechen durfte, auf der Straße aber mangels Arbeitserlaubnis die Begleitung eines lokalen Guide brauchte? Keiner weiß es. „Wir Reiseleiter tauchen in der Verhandlungsmasse natürlich nicht auf.“ Einstweilen wird sie Turnschuhe kaufen – beim aktuellen Kurs des Pfund sicher ein Schnäppchen. Und schauen, wie es sich aktuell so anfühlt in ihrer zweiten europäischen Heimat.