Stadt-Teilchen Von einer ganz bezaubernden Düsseldorfer Bahnhofs-Taube
Düsseldorf · Ein plötzlicher Sinneswandel beim betrachten der sonst so verachteten Vögel: Unser Gastautor hat Tauben zu schätzen gelernt.
Im nächsten Leben werde ich Taube. Taube im Hauptbahnhof. Ich werde dort alles lernen, was man für eine erfolgreiche Karriere braucht: Schnelle Reaktion, geschmeidiges Ausweichen, unbedingte Wachheit und die Fähigkeit, blitzschnell gutes Korn von schlechtem unterscheiden zu können. Wenn man das alles draufhat, kann man sofort erfolgreicher Manager in der Lebensmittelindustrie werden oder eben Taube im Hauptbahnhof.
Ich bin normalerweise kein großer Freund von Tauben. Ihre Angewohnheit, Visitenkarten vor allem in Form von ätzenden Kotflecken zu hinterlassen und damit ganze Bahnunterführungen in für Normal-Atmer potentiell tödliche Areale zu verwandeln, halte ich nicht für freundschaftsfördernd. Und wenn jemand dann auch noch meint, diese kleinen Scheißer durch Fütterung gezielt stärker machen zu wollen, schreite ich gerne auch mal lautstark ein und verteile als Blockwart vom Dienst ungefragt mahnende Worte.
Auch das ewige „Gurr gurr“ und dieses affektierte Halsgerecke gehen mir auf den Senkel. Ich hielt Tauben ehrlich gesagt bisher für eine Fehlkonstruktion der Natur, was sich nach meiner Beobachtung vor allem dadurch belegen ließ, dass sie beim Fliegen quietschen. Doch, Tauben quietschen. Ich kenne dieses Geräusch, weil sich sehr lange zwei Tauben einen Spaß daraus machten, in meinem Hinterhof von einem Baum zum nächsten zu fliegen und dabei ganz entsetzlich zu quietschen.
Aber dann war ich die Tage morgens früh um halb acht am Bahnhof und hatte bis zur Abfahrt meines ICE noch ein wenig Zeit, und da lief mir eine Taube in den Weg. Das heißt, sie lief mir nicht direkt in den Weg, denn eine Sekunde, bevor ich meinte ausweichen zu müssen, hatte sie schon höflich die Richtung gewechselt. Dabei lief sie direkt vor die Füße des nächsten Passanten. Aber auch der konnte seinen Schritt ohne Unterbrechung fortsetzen, denn die Taube vollzog sofort den nächsten Schlenker. Erst Zick, dann Zack und dann wieder Zick. Und zwischendurch ein schnelles Pick nach irgendeinem Ding, das auf dem Bahnhofsboden nach Nahrung aussah.
Wie sie da schwamm im Strom der 1000 Beine, das nötigte mir Respekt ab. Welche Eleganz sie dabei ausstrahlte. Ich überlegte kurz, wie das wohl für sie aussehen musste aus ihrer Perspektive, von ganz unten. Wenn man so klein ist wie eine durchschnittliche Taube, dann muss so ein Menschenbein doch eigentlich höchst bedrohlich wirken. Aber Furcht war bei dieser Bahnhofstaube nicht zu entdecken. Kein bisschen Scheu, immer nah am Menschen, aber nie so nah, dass es gefährlich werden könnte.
Wahrscheinlich könnte solch eine Bahnhofstaube auch als Skifahrer Berühmtheit erlangen. So ein Slalom dürfte ihr allenfalls ein müdes Lächeln entlocken, wobei ich mich natürlich frage, ob Tauben überhaupt lächeln können. Ehrlich gesagt habe ich noch nie eine Taube lächeln sehen, was natürlich daran liegen mag, dass ich der Taubenbeobachtung noch nicht so arg viel Zeit gewidmet habe und deshalb noch keine nennenswerte Mimik entdecken konnte. Wäre meine Kurzbetrachtung dagegen zutreffend und es fehlen der Taube tatsächlich mimische Fertigkeiten, wäre sie natürlich ein gefährlicher Gegner beim Poker. Was könnte die bluffen. Andererseits hätte sie natürlich Schwierigkeiten, ihre Karten zu halten.
Ich war erstaunt, für wie viele Berufe solch eine Durchschnittstaube offensichtlich qualifiziert ist. Auch als Fußballspieler konnte ich sie mir kurz vorstellen, was eine Aufnahme in den Fortuna-Kader nahe legte. Jeder Trainer müsste doch lechzen nach einem Spieler mit solch einer rasanten Reaktion. Der könnte links antäuschen, rasch das Gewicht nach rechts verlagern und dann letztendlich doch mit links schießen, was zwangsläufig eine dicke Torchance ergäbe, weil jeder gegnerische Spieler, der versuchen würde, den vorgegebenen Bewegungen zu folgen, schwindelig gespielt würde und von selbst umfiele. Dann aber dämmerte mir, dass der Taube all die Tricks nichts nützen, weil der offizielle Bundesligaball halt immer noch ein bisschen größer und wuchtiger ist als selbst.
Ich schaute mir dieses kleine Schauspiel auf dem Bahnhofsboden eine Weile an und fand es teilweise dem Ballett, das ich in Oper oder Tanzhaus erlebt hatte, durchaus ebenbürtig. Ich schaute mich kurz um, ob ich möglicherweise einen Choreographen entdecken könnte, der sich gerade wie ich inspirieren ließ von den Pirouetten. Ich sah niemanden.
Überhaupt schaute niemand außer mir richtig hin. Alle anderen hatten zu tun an diesem Morgen um halb acht. Sie hasteten durch diesen riesigen Raum und versuchten beinahe schon zwanghaft, alles um sie herum auszublenden. Sie hatten musikspendende Knöpfe im Ohr stecken, die sie abschirmten, und sie blickten durch alles hindurch, was vor ihnen lag. Im Geiste waren sie alle längst anderswo. Ein Hauptbahnhof ist halt kein Ort, an dem man freiwillig ist. Da will man durch, da muss man durch. Transferzone halt.
Ich fand das schade. Da gibt es mal eine großartige Aufführung im öffentlichen Raum, quasi Kunst im Bau, und niemand sieht hin. Kulturbanausen!
Ich überlegte kurz, ob ich meiner kleinen tippeligen Bühnenheldin applaudieren sollte, traute mich dann aber doch nicht, mitten im Gewühl durch lautes Händeklatschen als alter offenbar desorientierter Mann aufzufallen. Ich suchte nach einem Hut, in den ich zur Belohnung eine Münze hätte werfen können, aber da war nichts. Diese Straßenkünstlerin tat das alles nicht für Geld. Sie tat es einfach so für ein paar Körnchen, für ein paar Krumen.
Das sollte nicht unbelohnt bleiben, dass diese Taube meinen Aufenthalt am Bahnhof so spannend und aufschlussreich gestaltet hatte. Kunst hat ihren Preis, und Kunst gehört entlohnt. Ich ging also in einen der Backshops und kaufte mir ein kerniges Brötchen, und als ich im Revier des pickenden Multitalents war, verlor ich wie versehentlich ein paar Körner von meinem Brötchen. In Wahrheit verlor ich sie natürlich nicht, ich schabte sie gezielt ab und freute mich, dass sie sehr schnell eine Abnehmerin fanden. Ich tat also genau das, was der Blockwart in mir sonst bei anderen so vehement bemängelte. Ich war betört von einer Taube. Ich wusste, dass mein Verhalten in die Kategorie grundfalsch gehörte, aber es war mir ganz kurz mal schnurzpiepegal.
Es gibt halt Momente, die beginnen mit Staunen und enden bezaubernd. Da denkt man die Dinge nicht zu Ende. Da zählt manchmal nur der Augenblick. Dies war einer von diesen Momenten. Taube sei Dank.