Brillanter Tanz und verkopftes Ballett
Ein unkonventioneller „Schwanensee“, ein originell getanzter Rosen-Alptraum, aber auch theorielastiges Ballett. Wir bilanzieren die vergangene Spielzeit im Ballett am Rhein.
Der „Schwanensee“ ist der Renner beim Ballett am Rhein. Alle bisherigen Vorstellungen und viele in der kommenden Spielzeit sind ausverkauft. Und das lange, bevor Martin Schläpfer - der sich beinah zehn Jahre beharrlich gegen klassisches Tschaikowsky-Repertoire gewehrt, stattdessen überwiegend auf dreiteilige moderne und zeitgenössische Ballettabende gesetzt hatte - seine eigenwillige Deutung des tragischen Liebes-Märchens zwischen dem Schwanenmädchen Odette und Prinz Siegfried Anfang Juni vorstellte. Der Run auf die Karten auch in der kommenden Spielzeit ist ungebrochen, hört man aus dem Ballett am Rhein. Obwohl Schläpfers düsterer Schwanensee ohne Schwäne und ohne See nicht unbedingt die Erwartungen des traditionellen Ballettpublikums erfüllt. Zumal sie fehlen - die weißen Akte mit in Formationen schwebenden Schwänen in Tütü und auf Spitzenschuhen, die den Klassiker seit über 100 Jahren zum Ballett aller Ballette machten und auf die selbst modernere, weltweit agierende Choreographen nicht verzichten wollen.
Beim Rückblick auf die zu Ende gegangene Saison fällt dieses Opus aus dem Rahmen, da Schläpfer, kurz nach der Premiere, seinen Weggang nach Wien verkündete. Dorthin, wo er eben doch die von ihm geschmähten Klassiker pflegen oder neu herausbringen wird. Egal. Seine bekannte Handschrift neoklassischen Balletts und das Ringen mit existenziellen Menschheitsfragen waren eher zu erkennen in „b.33“- einem Dreiteiler, in dem er die Neukomposition „Roses of Shadow“ von Adriana Hölszky vertanzen ließ. Zu einer bizarren Geräuschkulisse (u.a. mit japanischer Zither) winseln und schreien, zappeln und rudern die Tänzer. Anstrengende, manchmal angestrengte Kunst ist das. Ganz anders als in seinen „Appenzeller Tänzen“ - einem harmlosen Frühwerk Schläpfers in ländlicher Idylle mit Kuhglocken, das er beim Dreiteiler „b.34“ rekonstruierte.
Wie elektrisierend und originell zeitgenössischer Tanz indes sein kann, erkannte man an demselben Abend in „Spectre de la rose“ von Marco Goecke, der vibrierende Wesen mit zitternden Arm- und Handbewegungen durch den Raum schickt. Und einen packenden Rosen-Alptraum entfacht.
Irritierend und neu im Opernhaus: „Environment“ (b.35) - eine Performance von Ben J. Riepe (bekannt aus dem Tanzhaus NRW“), die besser in einer Kunsthalle aufgehoben wäre. Da spricht ein Mann in Frack und Zylinder nachdenklich über Kunsttheorie, Metaphern und Live-Stream. Er bleibt am Rande stehen, scheint aus dem Caspar-David Friedrich-Gemälde „Wanderer über dem Nebelmeer“ herausgefallen zu sein. Dann erscheinen surreale Figuren, eingehüllt in froschgrüne und extrem farbintensive Ganzkörper-Gewänder, die auch über die Gesichter gezogen sind. Eine seltsam verkopfte Choreographie mit starken Bildern.
Wie seit neun Jahren üblich, platzierte Schläpfer in den Dreiteilern Masterpieces von Hans van Manen, George Balanchine und Kurt Jooss („Grüner Tisch“ - b.34). Letzteres das wohl berühmteste Antikriegs-Ballett der Tanzgeschichte, das Jooss 1932 für Essens Folkwang-Tanzbühne kreierte. Die stilechte, expressionistische Rekonstruktion beweist, wie fast alle Abende, die brillante neoklassische Technik und Verwandlungskunst des vielfach ausgezeichneten Balletts am Rhein. Zu bewundern ebenso im Dreiteiler b.35, u.a. mit „Decadence“ des renommierten Israeli Ohad Naharin, der durch seine „Gaga“-Technik bekannt wurde. Spannend zu sehen war es, wie die gedrillten Athleten hüpfen, zu Boden fallen, rasen oder plötzlich in einer Reihe stehen. Und blitzartig Posen und Bilder wechseln.
Traditionell, aber wenig originell daneben das neoromantische „Abendlied“ zu einem Schubert-Trio. Schwebende Elfen und Männergruppen, lyrische Bewegungen und zarte Hebefiguren dominieren in dem Werk von Remus Sucheana. Schläpfer machte ihn 2017 zum Ballettdirektor. Sucheana, Ziehkind von Schläpfer, hat unter ihm 16 Jahre getanzt und will auch als Choreograph in Erscheinung treten. Handwerklich sauber ist sein Opus, aber ohne Überraschungen, wenig originell, noch weniger aufregend. Schwer vorstellbar, dass er nach Schläpfers Abschied 2020 das Ballett am Rhein weiterhin leiten wird.
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