Düsseldorf Das Leben im 300-Menschen-Zelt

Spätestens durch den Brand in der Flüchtlingshalle an der Messe sind die Riesenunterkünfte in Verruf geraten. Wie lebt es sich mit so vielen Menschen aus aller Welt? Die WZ besucht die Traglufthalle in Rath.

Düsseldorf. Hinter der Schleuse in die Traglufthalle an der St.-Franziskus-Straße in Rath sitzen ein paar Männer auf blassorangenen Ledersofas zusammen — auf die weiße Stellwand hinter ihnen hat jemand ein Düsseldorf-Panorama geklebt. Dahinter beginnen die Trennwände der „Zimmer“. Nach oben sind sie offen, wer sich auf sein Hochbett stellt, kann drübergucken. Statt Türen gibt es Vorhänge. Die Luft surrt von der Klimaanlage. Sie ist bitternötig in diesen schwülen Tagen. Ganz hinten rechts in der Ecke wird gerade das Mittagessen ausgeteilt — Reis mit Gemüse und Hähnchen. Aber Peace hat keine Zeit. Wie so oft. Er muss in die Schule. Zum Deutschkurs.

Ikem Peace (deutsch: Frieden) Nwatchukwu ist einer von mehr als 250 Menschen, die derzeit in dem Zelt an der Sankt-Franziskus-Straße leben. In einer jener riesigen, privatsphärelosen, lauten Flüchtlingsunterkünfte, die durch Demos unzufriedener Bewohner und besonders durch den Brand in der ehemaligen Messe-Lagerhalle negativ in der Öffentlichkeit standen. „Wir haben 17 Nationalitäten im Haus, sind dominant mit Familien belegt“, sagt Constanze Jestaedt-Fischer von den Maltestern, die die Unterkunft leitet. Auch jede Religion ist vertreten. „Manchmal lernt man hier etwas über eine uralte iranische Glaubensrichtung.“ Doch für Ärger sorge das kaum. „Die meisten Reibereien ergeben sich aus dem menschlichen Zusammenleben“, sagt Jestaedt-Fischer. Nächtliche Geräusche, Handyklingeln, Musik, Kochen im Zimmer. „Bis zu 300 Menschen an einem Ort, das ist nie einfach.“

Auch für Peace war es schwierig, als er im November in das große Zelt kam. „Ich dachte: Hier kann ich nicht bleiben. Es gibt nicht einmal Luft.“ Inzwischen ist er innerhalb der Halle zwei Mal umgezogen, teilt sich ein Abteil jetzt mit Männern aus Syrien, Irak, Afghanistan und Eritrea. „Menschen kommen und gehen. Ich treffe viele Leute, die sehr verschieden sind“, sagt der 29-Jährige. Aber als er im Januar die Möglichkeit hatte, in eine andere Unterkunft zu ziehen, lehnte er ab — weil in der Traglufthalle rund um die Uhr ein Ansprechpartner da ist. „Die Malteser haben alles getan, um mir zu helfen.“ Und Peace braucht Hilfe.

Seine Frau wurde schwanger — beide wollten nicht, dass ihr Kind in einem Land aufwächst, in dem Morden zum Alltag gehört — sowohl von Boko-Haram—Terroristen als auch durch das Militär. Sie gingen zuerst nach Italien, doch dort gab es für den werdenden Vater nur unbezahlte Arbeit. Dann kam seine Frau zuerst nach Deutschland, brachte hier die Tochter zur Welt. Peace folgte ihr — doch weil die deutsche Bürokratie stammesrechtliche Ehen aus Afrika nicht anerkennt, ist die Familie weiterhin getrennt untergebracht. Zumindest sind sie jetzt beide in Düsseldorf — zuvor war die Frau in München, und Peace darf nicht reisen.

Der junge Mann versucht, aus seiner Situation und den bescheidenen Perspektiven das Beste zu machen. Sobald wie möglich will er arbeiten. Am liebsten Autos reparieren. Seit er in Düseldorf ist, lernt er vor allem Deutsch — manchmal hat er Kurse von 10 bis 17 Uhr und dann wieder von 18 bis 20 Uhr. Ohne Mahlzeit dazwischen. Seine Hausaufgaben erledigt er im Morgengrauen, bevor die Klimaanlage anspringt und der Trubel in der Halle losbricht.

Flüchtling Peace über den ersten Eindruck von seinem neuen Zuhause

„Unser Tagesablauf ist einfach“, sagt Constanze Jestaedt-Fischer. Ab 7 Uhr gibt es Frühstück für die Schulkinder, für die anderen dann nach und nach bis 10 Uhr. Zwischen 12.30 und 14.30 Uhr wird das Mittagessen serviert, Dinner zwischen 17.30 und 20 Uhr, im Ramadan-Monat nochmals um 22 Uhr. Um diese Zeit geht das Licht aus. „Dann ist die ganze Bude dunkel.“ Ansonsten herrscht eigentlich immer ein Gewirr aus Stimmen. Ab 9 Uhr ist der Info-Point am Eingang geöffnet, wo Mitarbeiter alle Fragen der Bewohner bündeln: Wer braucht einen Arzt, wer hat ein kompliziertes Schreiben vom Amt bekommen, wer hat sonstwelche Sorgen? Auf dem nackten, schmutzigen Spielteppich neben der Schleuse in die Halle spielen die vielen kleinen Kinder. Vor ein paar Monaten war er noch bedeckt von Spielzeug, das eine Schulklasse gesammelt und gespendet hatte. Doch rasch war alles zerstört oder weg. „Die Kinder halten an allem fest, das sie bekommen. Und sie spielen nicht Vater, Mutter, Kind — sondern Soldaten und Krieg“, erklärt Jestaedt-Fischer. „Wir wollen vermutlich gar nicht wissen, was sie gesehen haben.“ Nun werden Spielsachen und Fahrräder nur noch gegen Abgabe der Zugangskarte zur Halle verliehen.

Zwischen dem Zelt und zwei kleinen Plastikpavillons mit Sitzbänken draußen fahren gerade wieder viele Kinder auf Rädern hin und her. Ein dunkelhaariger Junge fährt grinsend an Constanze Jestaedt-Fischer vorbei: „Ich will in die Schule gehen!“, ruft er. „Ich weiß doch“, antwortet sie und verzieht das Gesicht. Der Neunjährige sei zwar für den Schulbesuch registriert, dann aber irgendwie vergessen worden, erklärt die Einrichtungsleiterin. Dieser eine Satz ist so ziemlich alles, was er auf Deutsch sagen kann. „Die meisten Probleme haben wir hier nicht mit den Bewohnern, sondern damit, dass wir zwischen den Mühlen der Bürokratie zermahlen werden“, sagt Jestaedt-Fischer. „Der Job hier ist lauter, dreckiger und frustrierender, als ich mir das je vorgestellt hatte. Aber auch schöner und fröhlicher.“

Drei ehemalige Bewohner seien sogar als ehrenamtliche Dolmetscher zurückgekehrt in die Halle, die sie so dringend verlassen wollten. Das mache die stickigen Büros ohne Tageslicht erträglich. Sogar die bürokratischen Mühlen. Menschen wie Peace, der mit dem Rad gerade wieder zu einem Deutschkurs unterwegs ist.

„Ich will in Deutschland bleiben“, sagt er. „Und ich muss jetzt arbeiten. Ich will beitragen, nicht nehmen.“ Die laute, stickige Halle ist für ihn ein zweitrangiges Problem. Auch der Ärger, den es zwangsläufig immer mal wieder gebe. „Jeder begegnet im Leben mal Ärger — es kommt nur darauf an, wie man mit ihm umgeht“, findet der 29-Jährige.