Das zeitlose Phänomen Tyrann
Das Schauspielhaus zeigt Camus’ erstes Drama „Caligula“ mit einem leidenschaftlichen André Kaczmarczyk in der Hauptrolle und einem Übermaß an Einfällen.
„Caligula“ rebelliert gegen die Welt, die Menschen und sich selbst. Anfangs wie ein großes Kind, springen und schlagen er und seine Kumpane auf einer raumfüllenden Hüpf-Matratze in morbider Pinkfarbe Purzelbäume. Am bitteren Ende dann als vereinsamter Tyrann in einem riesigen Grammophon-Trichter. Er, an dessen Händen literweise Blut klebt, wird abgeführt und kapituliert: „Das war der falsche Weg.“
Leise klingt der Schluss dieses ansonsten spektakulär aufgeheizten und knallfarbigen Theaterabends „Caligula“, der jetzt im Schauspielhaus (Central) in Sebastian Baumgartens Regie Premiere feierte. Blind wütete der römische Kaiser Gaius Cäsar Augustus Germanicus (12 bis 41 n. Chr.), genannt „Caligula“, und ließ in kurzer Zeit reihenweise Menschen über die Klinge springen. Nicht nur die, die sich ihm widersetzen, sondern auch diejenigen, die Verschwörer und Rebellen verraten. „Die Welt ist so, wie sie gemacht ist, nicht zu ertragen“, entscheidet der jugendliche Kaiser.
Jungenhaft, dreckbeschmiert und wie ein Rotzlöffel, so beginnt er einen mörderischen Kampf, der Feind und Freund in Angst und Schrecken versetzt. „Wir dienen einem Irren“, flüstern die potentiellen Opfer und späteren Rächer den anderen ins Ohr, einige sogar in die Ohren der Zuschauer in den ersten Reihen. Über die Allmachtsfantasien und den Blutrausch des Nihilisten „Caligula“ verfasste der junge Albert Camus 1938 sein erstes Drama - damals noch in Algerien. Prall gefüllt mit philosophischen Erkenntnissen über die Ausübung und Missbrauch von Macht. Und Sätzen, die angesichts moderner Diktatoren aktuell wirken. Kein Wunder, dass dieser selten gespielter Vierakter, erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Paris uraufgeführt, derzeit wieder auf Spielplänen auftaucht.
Im Schauspielhaus ist es ein fesselnder, blutrünstiger, bilder- und effektreicher Parforceritt durch die Abgründe eines Tyrannen, der die Zuschauer in pausenlosen zwei Stunden schockiert und elektrisiert — besonders dank André Kaczmarczyk, der sich auch in diese Titelrolle „hineinschmeißt“ und sich erschöpft, mit Haut und Haaren den nachdenklichen, aber auch wahnsinnigen Gewaltmenschen spielt. Jugendlich wild, beinah ein Terrorist, dann wie ein gefährliches Raubtier, das seine Opfer an sich heran lässt und unerwartet zuschlägt. Dann wieder philosophisch tief.
Kaczmarczyk spielt nicht nur, in Sekunden ist er dieser hochgradig nervöse Potentat und überträgt die Zerrissenheit auf die Zuschauer. Er lässt keine Sekunde locker, kribbelt permanent mit den Fingern, manchmal wie ein Insekt über den Rücken seiner Entourage. Erstaunlich gelingt Kaczmarczyk die Balance zwischen Herausbrüller und Einflüsterer, zwischen Wahnsinnstaten mit Pistolen und Guillotine und den philosophischen Szenen, in denen er zynisch seine Sicht von Staat und Wirtschaft erläutert und seine nihilistischen Konsequenzen zieht. Seine Mit- und Gegenspieler — wie Jonas Friedrich Leonhardi (als sein Jugendfreund Scipio) und Ben Daniel Jöhnk (als der von ihm befreite Sklave Helicon) — lösen sich nur selten aus der Rolle von speichelleckenden Marionetten des Tyrannen.
Die Premiere der opernhaft hochgepumpten Neu-Inszenierung des brisanten Stoffs durch Sebastian Baumgarten wurde im voll besetzten Central gefeiert. Zwar mit anhaltendem Applaus, jedoch ohne Ovationen. Baumgarten, im deutschsprachigen Raum ein vielgefragter Theater- und Opernmacher, vermeidet Gedankentheater, sondern er und Barbara Steiner (Bühne), Stefan Schneider (Musik) und Hannah Dörr (Video) ziehen alle Zauber-Register einer großen Show. Auf mehreren Bühnen (auch einer Guckkasten-Bühne) und Projektionsflächen ziehen Bilder vom Algerienkrieg und Schrifttafeln vorüber, auf denen über historische Fakten berichtet wird. Plötzlich spielen die Figuren wie im Scherenschnitt nahezu kabarettistische Miniatur-Szenen. Ein Schuss Hollywood hier, a bissel bitterböse Comedy und Kasperle-Theater dort.
Das Übermaß an Einfällen betäubt, lenkt streckenweise von der gottlosen Welt des Caligula ab. Positiv aber, dass Baumgarten und Kaczmarrczyk die beschworenen Allmachtsphantasien als zeitlos darstellen und nicht mit dem Finger auf die Trumps und Erdogans unserer Tage hinweisen.