Kolumne Die Berge von Düsseldorf
Düsseldorf · Wie der Wald auf dem höchsten Punkt der Stadt den Fernblick boykottiert. Wie sich ein zukünftiger Ausblick-Star in Position bringt. Und wo sich auf 108 Düsseldorf-Metern doch noch der Blick bis Köln öffnet.
Mit dieser Kolumne muss es endlich bergauf gehen. Hoch hinaus. Ganz nach oben. Bis auf 164,7 Meter über Normalnull. Dort liegt unser heutiges Ziel: der Sandberg in Düsseldorf-Hubbelrath. „Privatgelände. Zutritt nur für Mitglieder und Gäste“ lesen wir auf dem Schild, vor dem ein asphaltierter Weg von der Bergischen Landstraße zum Golfclub Hubbelrath abgeht. Gipfelstürmer haben es nicht leicht.
„Egal“, sagt mein bester Freund P., dessen schrottiger Touran so gar nicht nach Golfclub aussieht. „Wir parken da einfach, es wird schon keiner was sagen.“
Den Impuls zu unserem heutigen Ausflug hat P.s aus Ehrenfeld zugezogener Schwager gegeben: Vom Sandberg aus habe er – wie sensationell sei das denn! – im Abendlicht den Kölner Dom am Horizont gesehen, und da müsse man unbedingt mal drüber schreiben, und P. kenne doch einen bei der Zeitung … Weil man mich mit der Aussicht auf schöne Ausblicke leicht überzeugen kann, habe ich sofort zugesagt. Dass man von Düsseldorfer Boden – wir sprechen hier nicht vom Rheinturm – tatsächlich bis in meine Geburtsstadt Köln gucken können soll, finde auch ich durchaus sensationell.
Wir parken im Golfklub-Gästebereich, und tatsächlich ist die Porsche-und-andere-schicke-Autos-Quote dem Golfklub-Klischee entsprechend eher hoch. Anderseits würde der Touran meines Begleiters hier gar nicht mal negativ auffallen – wäre er nicht so unfassbar schmutzig.
Hubbelrath. Schon der Name klingt hügelig, und es dürfte gar nicht so wenige Düsseldorfer geben, die den östlichsten und erst 1975 eingemeindeten Stadtteil noch nie betreten haben. Ein Teil dieses grün-hügeligen Zipfels (siehe Infokasten) ragt über die A3 hinaus, und bis zum Neandertal ist es auch nicht mehr allzu weit. Die Landschaft um uns herum wirkt eher bergisch als rheinisch: Hügelketten mit Bäumen, tiefe Täler mit Bächen. Außerdem: Felder, Gutshöfe – und zwei Golfclubs.
Rauf auf den Sandberg. Er mag der höchste Punkt der Stadt sein, aber der Höhenunterschied von der Bergischen Landstraße zu seinen Füßen bis zur Spitze beträgt allenfalls 70 Meter. Wer auf den umliegenden Hängen offiziell den Schläger schwingt, darf die weiter unten liegenden Besucher-Parkplätze rechts liegen lassen und sein Auto auf der Sandberg-Kuppe abstellen. Anders gesagt: Der höchste Punkt Düsseldorfs ist ein bewaldeter Golfklubmitgliederparkplatz.
„Hm“, macht mein bester Freund P. „Ist das hier überhaupt der Sandberg?“
„Irgendwo muss die Köln-Blick-Lücke sein“, vermute ich.
Die einzige Lücke mit Fernblick, die wir zwischen den Bäumen finden, tut sich oberhalb des Golfplatz-Grüns Richtung Osten auf. „Passt doch, Köln liegt schließlich im Osten“, sagt P.
Ich kneife die Augen zusammen, zeige auf eine Art Fernsehturm, der am Horizont zu sehen ist und verkünde triumphierend: „Stimmt, da vorne ist er ja, der Kölner Dom!“
Als ein älterer Herr mit karierter Hose Richtung Driving Range vorbei spaziert und freundlich grüßt, legen wir unsere Ironie-Panzer ab.
„Entschuldigen Sie“, beginnt P. „Wissen Sie, ob das hier der Sandberg ist?“
„Nein“, sagt der Karo-Mann. „Aber den Namen hab ich schon mal gehört. Der Sandberg ist hier in der Nähe, glaube ich.“
„Danke, wir werden ihn schon finden“, sagt mein charmanter Freund P. „Und Ihnen wünschen wir schönes Spiel!“
Kaum ist der Golfer außer Sicht, starten wir auf den Smartphones fast zeitgleich eine Google-Maps-Suche – und kommen zu einem klaren Schluss: Hier, genau hier, befindet sich der Sandberg.
„Hat dein Schwager einen neben sich laufen?“, frage ich.
„Nein“, sagt P. „Der ist Lehrer, und Lehrer lügen nicht.“
Wir erkunden die nicht allzu große Bergkuppe und treffen auf ein eingezäuntes Gebäude. Wie uns das Netz verrät, haben wir es mit einer „Wasserdruckerhöhungsanlage“ der Stadtwerke zu tun. Daneben steht ein nach Mobilfunk aussehender Mast.
„Vielleicht ist dein Schwager heimlich die Antenne oder eine der Baumkronen hochgeklettert“, sage ich. „Von da aus hat man sicher einen tollen Blick.“
„Weißt du was“, sagt P. „Ich rufe den jetzt an!“
Drei Tage später: Wir treffen uns morgens an der Aral-Tankstelle an der Gerresheimer Landstraße in Düsseldorf-Unterbach. P.s Anruf hat sowohl den Köln-Blick-Schwager als auch den Hubbelrather Sandberg entlastet: Dieser Schwager war zwar noch nie in Hubbelrath – gelogen hat aber auch nicht. Sogar Beweisfotos hat er geschickt und eine Skizze, von welchem Punkt des Sandbergs aus man bei guter Sicht unsere südliche Nachbargroßstadt am besten am Horizont erspähen könne. Des Rätsel Lösung: Es gibt in Düsseldorf einen zweiten Sandberg, er ist 108 Meter hoch, und wir wissen nicht, ob er auch offiziell oder nur im Volksmund so genannt wird.
Wir spazieren also die Erkrather Straße Richtung Erkrath entlang und biegen nach gut 100 Metern links in einen asphaltierten Feldweg namens Im Hochfeld ab. Ein Schild verkündet: „Land- und forstwirtschaftlicher Verkehr frei.“ Vorbei an einem Obststand und an Feldern – gesichert von „Bitte lasst eure Hunde hier nicht scheißen“-Symbol-Schildern – geht es Richtung „Gipfel“. Schnurgerade ist der Weg und sanft ansteigend, und dann macht er einen Knick und führt fein geschwungen auf eine Doppelbank neben einem Quittenbaum zu. Richtung Nordosten ist die Erkrather „Skyline“ zu sehen, dahinter die Autobahnbrücke der A3 über das Neandertal. Etwas weiter unten: eine zweite Bank. An einem Wanderpfad, bewacht von einer Baumreihe, vor dem frisch gepflügten Feld. Schön ist es hier und ruhig, und eigentlich müsste schnellstens einer die braunen Acker-Rillen und den blauen Himmel und die weißen Wolkentupfer auf einem Aquarell verewigen, und dieses Aquarell müsste „Unterbach-Urlaub“ heißen.
Wir setzen uns auf eine der Bänke neben dem Quittenbaum, schauen entlang des Wegs, den wir gekommen sind, zurück. Panorama-Check: Kann der Horizont liefern, was der Köln-Blick-Schwager versprochen hat? Links: die Hügel des Bergischen Lands, flankiert von Kirchtürmen, die zu Haan oder Solingen gehören könnten. Rechts: Hildener Häuserspitzen und Bäume Bäume Bäume, weiter hinten ein Strommastenmeer. Eigentlich müssten irgendwo am Blickrand auch der Kölner Dom und der Kölner Fernsehturm Colonius auftauchen. Doch der morgendliche Dunst verdirbt das Spiel, klebt feucht am Boden, zieht Schwaden, und die Fernsicht bleibt so vage wie einnehmend.
Eine halbe Stunde vergeht, ohne dass mein bester Freund P. und ich ein Wort sagen. Der Horizontblick ist Yoga – bis die Stille von einem heraufschauenden Hund durchbrochen wird: ein Labrador. Er trottet aus dem Tal an den Bänken vorbei und bellt uns an. Seine Herrin, eine quirlige Seniorin, entschuldigt sich: „Der ist schon alt, der tut nix, der ist kastriert.“
Daraufhin P.: „Vielen Dank, das wäre gar nicht nötig gewesen.“ Woraufhin der dezent rheinisch sprechenden Seniorin auffällt: „Ach so, sie haben ja gar keinen Hund dabei.“
Mein hundeaffiner Freund P. wechselt mit einer Frage gekonnt das Thema: „Wissen Sie vielleicht, wo man von hier aus Köln am Horizont sehen kann?“
Die Hundefrau runzelt die Stirn: „Von hier aus kann man Köln gar nicht sehen.“
„Nicht jetzt, sondern bei klarer Sicht“, konkretisiert P.
„Auch bei klarer Sicht nicht, da ist ja noch Leverkusen davor, und überhaupt ist Köln viel zu weit weg“, sagt die Hundefrau. „Also, ich komme an dieser Stelle fast jeden Tag vorbei, und ich habe Köln noch nie gesehen.“
„Mein Schwager war letztens hier und hat sogar Fotos vom Kölner Dom gemacht“, versichert P.
„Das kann nicht sein“, sagt die Hundefrau.
„Mein Schwager ist Lehrer“, sagt mein verspielter Freund P. mit durchaus ernster Stimme. „Und Lehrer lügen nicht.“
„Ich war früher auch Lehrerin“, sagt die Hundefrau im Vorbeigehen, und dann hebt ihr Labrador das Bein und pinkelt, ohne dass sie es merkt und als wolle er seine Chefin bestätigen, an unsere Bank – und weg sind die beiden.
P. schickt noch einen seiner sinnlosen P.-Sätze hinterher: „Jetzt haben wir sie gar nicht gefragt, wie ihr Hund heißt.“ Und dann gibt er selbst die Antwort: „Der Hund heißt Horizont, völlig klar.“
Plötzlich zeigt mein Begleiter aufgeregt dahin, wo wir das Objekt unserer Begierde vermuten: „Da ist er! Schau hin, bevor es zu spät ist!“ Tatsächlich hat der Unterbacher Köln-Horizont inzwischen seine Dunst-Maske abgenommen. Wir meinen zu erkennen: zunächst den Dom, außerdem den Kölnturm und den Kölner Fernsehturm. Die Silhouetten blitzen immer nur kurz auf, dann verschwinden sie wieder.
Ich möchte trotzdem versuchen, mit meiner Digicam ein Zoom-Foto zu machen. Doch Horizont-Kenner P. winkt ab: „Lass uns den Berg noch ein Stück höher hinauf spazieren, der Himmel wird später noch weiter aufklaren.“
Wir laufen also die restlichen 200 Meter des Feldwegs ab, überqueren dabei die Grenze zu Erkrath, erreichen die Kuppe, passieren – wie zuvor auf dem Sandberg in Hubbelrath – ein eingezäuntes Gebäude („Trinkwasserbehälter Hochscheidt“), biegen in den Römerweg ein. Kurz darauf richten wir den Blick gen Norden. „Eigentlich müssten man vor hier aus den Sandberg in Hubbelrath sehen können“, sagt P. „Von Sandberg zu Sandberg!“
Wir nehmen zwei bewaldete Hügel in die Auswahl, können uns aber nicht entscheiden, welcher der richtige ist. Derweil zieht eine andere Erhebung unsere Blicke auf sich. Sie wirkt, als sei sie der mit Abstand höchste Punkt in der Umgebung: der Hügel der Zentraldeponie Hubbelrath. Eine schnelle Google-Recherche ergibt: Der – natürlich – unbewaldete Müllberg ist angeblich rund 160 Meter hoch und soll sich bis Ende der Betriebsphase der Deponie in ein Naherholungsgebiet verwandeln, und in einer Info-Broschüre wird schon jetzt versprochen: „Bei gutem Wetter reicht der Blick bis nach Köln.“
„Der soll niedriger als der Hubbelrather Sandberg sein?“, sagt mein bester Freund P. „Sieht eher ein wenig höher aus.“
Wir einigen uns darauf, dass die Mülldeponie-Leute so oder so noch ein paar Meter drauf packen sollen, und dann kann die Stadt die Fläche irgendwann als höchsten Berg Düsseldorfs vermarkten, und dann wird das ein großer Spaß, und auf dem Weg zurück zu den Quittenbaum-Bänken verabreden mein bester Freund P. und ich uns schon mal: Im Sommer 2039 werden wir uns mit unseren Enkelkindern auf dem ehemaligen Müllberg zum Picknick treffen.
„Müllberg klingt nicht einladend für einen zukünftigen Ausblick-Star“, sage ich.
Während wir uns wieder auf „unsere“ Bank setzen, schlägt mein sarkastischer Freund P. eine Benennung in „Greta-Thun-Berg“ vor, ich wiederum plädiere für „Hubbelrather Höhen“ – und dann widmen wir uns der Gegenwart, verwandeln uns zurück in Fernblick-Jäger, die Köln erlegen wollen.
Doch wir bleiben ohne Beute, denn der Dom und seine Kollegen sind längst wieder im Dunst verschwunden.
„Ach komm“, sage ich. „Ist ja auch egal, interessiert ja außer uns eh kaum keinen, ob man von hier aus Köln sehen kann – oder nicht.“
„Das Publikum beklatscht ein Feuerwerk, aber keinen Sonnen-Aufgang“, verkündet P. mit bedeutungsvoller Stimme.
„Ist der Spruch von dir?“, frage ich.
„Nein, von meinem Schwager“, sagt P.
„Meinst du nicht, dass dein Schwager den irgendwo geklaut hat?“
„Nein, Lehrer machen so was nicht. Lehrer klauen genauso wenig wie sie lügen. Niemals!“
Und dann grinst mein kreativer Freund P., der kein Lehrer ist, so unverschämt, dass man denken könnte, er habe sich das mit dem Ehrenfelder Schwager und dem angeblichen Köln-Blick nur ausgedacht, um mit mir als Drehbuchautor die Regie in seiner ganz eigenen Geschichte zu übernehmen.