Ex-Obdachloser Helmut hat es von der Platte in die eigene Wohnung geschafft
Düsseldorf · Helmut ist einer von insgesamt 50 Menschen, die es dank Fifty-Fifty und des Konzepts Housing First von der Straße in die eigene Wohnung geschafft haben. Der 63-Jährige und fünf andere Düsseldorfer wurden ein Jahr lang von einem Kamerateam begleitet. Die Dokureihe ist auf Vox zu sehen.
Auf den Stufen der Johannes Kirche, eingehüllt in Jacke, Wolldecken und Schlafsack, liegt Helmut Kral. Neben ihm sein silberner Rollkoffer, in dem er sein ganzes Hab und Gut verbirgt. Ein paar Anziehsachen, ein Gaskocher, Kaffeepulver und eine Zahnbürste. Verschlafen lugt er unter seiner Kapuze hervor. Sein Körper ist durchgefroren, in der Nacht ist die Temperatur unter Null gesunken.
Um fit für den Tag zu werden, hilft dem 63-Jährigen jetzt nur eins: Heroin. Früher spritzte er es sich. Das machen die Venen aber nicht mehr mit. „Die sind zu kaputt“, sagt Helmut und krümelt das bräunliche Pulver auf eine Plastikkarte. Dann beugt er sich vor und zieht es durch die Nase. 80 Euro braucht Helmut täglich, um mit seiner Dosis Heroin schmerzfrei durch den Tag zu kommen.
„Das ist ein krasser Druck, der auf einem lastet“, sagt er, während er wenig später inmitten von vorbeieilenden Passanten ein Bündel Obdachlosenzeitungen an seinen Körper drückt. Ein Druck, den er sich nicht anmerken lässt. Höflich und zurückhaltend bietet er den Menschen eine Zeitung an. Landet etwas Kleingeld in seinem Pappbecher bedankt er sich überschwänglich. „Jeder Cent zählt“, ruft er einem jungen Mann hinterher, der einige Münzen da gelassen hat. Helmut meint, wie er es sagt. Denn der Druck steigt. Am Mittag hält er es nicht mehr aus und sucht seinen Dealer auf.
Diese Szenen sind längst Vergangenheit. Sie stammen von einem Kamerateam, das Helmut und andere Obdachlose aus Düsseldorf ein Jahr lang begleitet hat. Mittelpunkt der Dokureihe: Das Konzept Housing First, das die gemeinnützige Organisation Fifty-Fifty nach Düsseldorf geholt hat. Dabei bekommen obdachlose Menschen eine Wohnung – keine Notunterkunft, kein betreutes Wohnen, keine Wohnung auf Zeit, sondern eine eigene Wohnung. Mit Mietvertrag, ohne verpflichtende Therapien und Beratungen. Die einzige Auflage: Die Bewohner müssen runter von harten Drogen und damit in der Lage sein, den Mietvertrag zu erfüllen.
„Die eigene Wohnung ist wie eine Homebase. Schwimmen lernt man schließlich auch nur im Wasser. Und so ist es auch beim Wohnen. Sind die Menschen erst mal in er Wohnung, können sie sich um die anderen Probleme kümmern. Aber dafür braucht es Zeit“, sagt Sozialarbeiter Oliver Ongaro. Viele Menschen hatten massive Drogenprobleme, saßen im Gefängnis, haben keinen Kontakt mehr zu ihren Familien. Für viele sei es schon ein enormer Fortschritt, sich eine Wohnung einzurichten und sie sauber zu halten, so Ongaro. Fifty-Fifty begleitet die Menschen, bietet ihnen Hilfe an. Bei Behördengängen, bei Suchttherapien, beim Schuldenabbau. „Aber es bleibt ein Angebot, jeder darf selbst entscheiden, ob er die Hilfe in Anspruch nimmt“, sagt der Sozialarbeiter. Kommt es zu Mietrückständen, ist die Organisation als Vermieter da, um zu helfen. Denn Fifty-Fifty hat die Wohnungen gekauft, aus Erlösen von Kunstverkäufen und durch Spenden.
Es geht um eine Begegnung auf Augenhöhe, darum, dem Menschen wieder das Gefühl zu vermitteln, er werde „für voll genommen“, um Eigenständigkeit und eine echte Integration in die Gesellschaft. Und dazu gehört auch, dass die Menschen in ein stabiles Wohnumfeld kommen, sie im Haus auf Mieter treffen, die nichts von ihrer Vergangenheit wissen. „Sie kommen mit ganz normalen Menschen in Kontakt. Das färbt ab und zwar sehr positiv“, sagt Ongaro. Die bisherigen Erfahrungen geben dem Sozialarbeiter Recht: Von den 50 Menschen, die in einer Wohnung untergekommen sind, ist bisher niemand auf die Straße zurückgekehrt. „Das zeigt uns, dass jeder Mensch eine Chance verdient, sein Leben selbstständig in die Hand zu nehmen und es mit Unterstützung dann auch schaffen kann“, sagt Ongaro, betont aber, dass der Neustart in der eigenen Wohnung nach Jahren der Obdachlosigkeit auch mit Rückschlägen verbunden ist.
Auch Helmut hatte seine Höhen und Tiefen. Vor wenigen Tagen hat er dennoch Einjähriges gefeiert: Am 7. Februar 2019 bezog er seine Wohnung. Zwei Zimmer mit Küchenzeile und zwei kleinen Balkons. Das Kamerateam hat ihn auch dahin begleitet, war dabei, als der 63-Jährige fassungslos vor seiner eigenen Dusche stand und schwärmte: „Da werde ich gleich eine halbe Stunde drunter stehen. Nur das erste Mal so lange. Danach muss ich an die Nebenkosten denken.“ Helmut ist im Methadonprogramm, bekommt täglich einen Ersatzstoff für Heroin. Er ist kaum wiederzuerkennen, trägt die Haare kurz, rasiert sich täglich. Er hat einen Job als Küchenhilfe gefunden und sogar eine Ausbildung in Aussicht gestellt bekommen.
Die Straßenszene meidet er. Seinen Kumpel Ralf, mit dem er früher Platte machte, hat er im September ein letztes Mal besucht. Er saß wie immer an der Königsallee vor dem Sevens. Im Dezember lagen an dieser Stelle Teelichter, Rosen und ein Bild von Ralf. „Niemand weiß, woran er gestorben ist“, sagt Helmut. „Aber er sah schon im September sehr krank aus.“ Auch Ralf hätte er eine Wohnung gewünscht. Eine Chance, wie er sie bekommen hat. Aus der er etwas machen will. „Ich will nie mehr auf die Straße zurück“, sagt er.