Geschichte Theaterprotest vor 50 Jahren: Mit Kaugummi auf die Bühne

Düsseldorf · Künstler wie Jörg Immendorff, Chris Reinecke und Erinna König stürmten 1970 den Schauspielhaus-Neubau von Bernhard Pfau zur Einweihung. Wir sprachen mit Erinna König.

Zur Eröffnung des Schauspielhauses am Gustaf-Gründgens-Platz gab es 1970 heftige Proteste.

Foto: Jürgen Retzlaff

Am 16. Januar 1970 wurde das Düsseldorfer Schauspielhaus von Bernhard Pfau unter enormen Protesten aus der Studentenschaft, vor allem der Akademiestudenten, eröffnet. Erinna König gehörte zu einer kleinen Gruppe junger Künstler, die die Bühne stürmten. Ein Gespräch.

Was war der Grund für den Protest?

Erinna König: Wir hatten große Bedenken, weil eine Kastenbühne in einem architektonisch gerundeten Gebilde steckt. Wir Kunststudenten übten Kritik an der Form. Der Architekt setzte etwas Rundes gegen das senkrechte Thyssenhaus mit seinem rechteckigen Grundriss. Das erschien uns vollkommen sinnlos, nur formalästhetisch, weil im Innern doch ein Viereck ist.

Gerhard Storck, der spätere Museumschef in Krefeld, gibt Ihnen recht. Er veröffentliche fast gleichzeitig seine Dissertation, in der er das Freie und Leichte der repräsentativen Rundplastik gegen die herkömmlichen ästhetischen Grenzen im Innenraum ausspielte. War die Guckkastenbühne passé? Ging es Ihnen lediglich um die Architektur?

König: Wir waren damals alle sehr radikal und kritisierten, dass man für 40 Millionen DM überhaupt ein Schauspielhaus errichtete, obwohl es viel zu wenig billige Wohnungen gab.

Erinna König gehörte einst zu den Protestlern gegen das neue Schauspielhaus. Heute bereitet sie sich auf ihre Ausstellung in der renommierten Skulpturenhalle von Thomas Schütte vor.

Foto: Erinna König/Albrecht Fuchs

Deshalb störten Sie die Aufführung von „Dantons Tod“?

König: Wir konnten nicht verstehen, dass sich Leute vor eine Guckkastenbühne setzen, um sich ein Revolutionsstück anzuschauen, während draußen vor der Tür unserer Ansicht nach die Revolution tobte. Die jüngere Generation begehrte auf, es gab Mietnotstand und Nazis in der Regierung.

Es heißt, man habe gegen die „Bonzen“ im Zuschauerraum protestiert?

König: Es war ein Protest gegen alle, die das Projekt Schauspielhaus entworfen und durchgeführt hatten, ohne Bezug zur sozialen Realität.

Letztlich ging es gar nicht um den Theaterbau, sondern ums Prinzip?

König: Ja.

Nun konkret, wie kamen Sie auf die Bühne? Stand denn niemand Wache?

König: Nein, alles war offen. Jörg Immendorff stürmte vorne weg. Soviel ich mich erinnern kann, sind wir mit drei oder vier Leuten von der Seite auf die Bühne gekommen.

Chris Reinecke, Immendorffs damalige Frau, war mit Kaugummi bewaffnet?

König: Ja, sie lag schräg auf der Bühne und zog Kaugummi hoch. Wir wollten stören, „Dantons Tod“ selbst spielen. Wir wollten ja später auch bei den Olympischen Spielen als blinde Passagiere auftauchen, mitschwimmen und mitrennen. Aber in Düsseldorf haben uns die Sicherheitskräfte ganz schnell von der Bühne gedrängt. Wir sind dann nach Hause gegangen.

Und überlegten sich eine Aktion auf dem Schauspielhaus-Vorplatz?

König: Ja, wir nannten sie „Baut Euch Eure Häuser selbst“ und errichteten dort Papphäuser, in die sogar zwei Leute mit all ihrem Hab und Gut einzogen.

Papphäuser sind nicht ganz originell, die gab es schon bei Lidl unter Jörg Immendorff und Chris Reinecke in der Kunstakademie. Hatte das damit etwas zu tun?

König: Nein. Den Lidl-Leuten ging es um den erweiterten Kunstbegriff von Beuys, vermischt mit Konzeptkunst. Sie wollten die Menschen an anderen Orten als in Galerien und Museen erreichen. Sie hatten ihre letzte große Aktion am 2. März 1970 in der Kunsthalle Köln bei der großen Musterschau der rheinischen Kunstproduktion „Jetzt, deutsche Kunst heute“. Da gingen während der Eröffnungsrede des Kunsthallenchefs Leppien plötzlich die Feuerlöscher an und alles löste sich in Tränen auf. In der ersten Reihe saß Chris Reinecke mit einem Tulpenstrauß in der Hand. Als sich der Nebel verzogen hatte, hielt sie nur noch Stiele, weil sie in der Vernebelung um sich geschlagen hatte. Lidl spielte dann in der ersten Etage vor den empfindlichen Werken von Graubner Ball. Natürlich kam die Polizei, und danach war Lidl erst mal verschwunden.

Wie reagierten Sie?

König: Wir gründeten das Büro Olympia und wurden immer politischer.

Es heißt, Immendorff sei damals in der DKP gewesen. Stimmt das?

König: Nein, die DKP war für uns der größte Feind, weil die DDR das Schlimmste war, was wir uns vorstellen konnten. Es gab allerdings an der Akademie den Spartakus, die Studentenorganisation der DKP. Wir selbst tendierten mehr zu den Berliner ML-Fraktionen, also marxistisch-leninistisch-maoistisch. Immendorff war Sympathisant in der Kommunistischen Partei Deutschlands, Aufbauorganisation“ (KPD-AO). Das war eine Kaderpartei, keine Volkspartei. Dort konnten jedoch nur Proletarier Mitglieder werden. Er war also nie irgendwo.

Sie haben schließlich die linke Richtung mitsamt der Agitation aufgegeben?

König: Ja, das haben wir alle getan. Die Linksorientierung der Künstler, auch die von Immendorff, ging einher mit naiv gemalten Bildern. Der Gedanke, wir könnten die Weltrevolution in ein paar Jahren schaffen, war ja eine völlig naive Vorstellung. Als Künstler hatten wir eine ganz andere Imagination als die Hardliner, die irgendwelche Programme ausgearbeitet haben.

Welche Erkenntnis brachten Ihnen die Stürme der 1970er Jahre?

König: Erst Ende der 1970er Jahre wurde mir klar, dass eine eindeutige Illustration der politischen Gegebenheiten nichts mit Kunst zu tun hat. Kunst lässt sich nicht vereinnahmen. Sie muss mehrdeutig sein.