Die Herrscher der Tastatur
Kabawils neues Stück beschäftigt sich mit Identität im Internet.
Düsseldorf. "Mama, schalt den Strom wieder ein" ruft Mickey verzweifelt. Mutter hat ihrem Jungen den Saft abgedreht, um seinem Virtualitätswahn etwas entgegenzusetzen. Prompt verfällt Mickey in quälende Entzugserscheinungen, der Körper windet sich schmerzhaft, und die Finger zucken wild über imaginäre Tasten.
Der Verein Kabawil e.V. widmet sich in seiner neuen Produktion "net_sein.de" im Juta der jugendlichen Selbstfindung im Zeitalter virtueller Identitäten. Wenn Internet und Realität gleichberechtigt als soziales Experimentierfeld dienen, kann auch das Bild des Ich ununterscheidbar zwischen Wirklichkeit und Einbildung changieren.
Mickey (Bastian Sierich) im unschuldig weißen Outfit jedenfalls hat sich zum Netzjunkie entwickelt, der zwischen comicartig bemalten Stellwänden wie ein Herrscher mit der Tastatur als Szepter thront. Als Administrator der Plattform Life Zero hält er seine Nutzter mit bösartigen Aktionen bei Laune.
Und genau da kommen die 20 Jugendlichen von Kabawil ins Spiel, die sich nach einer zunächst noch etwas ungelenken Eröffnungschoreografie zu einem fulminanten mitreißenden Spiel steigern. Allen voran die sechsköpfigen Provo-Truppe Life Zero Busters - Mickeys verlängerter Arm. Da wird ein junges Mädchen zum Blinddate bestellt und soll als Erkennungszeichen laut singen, worauf sie lächerlich gemacht wird und die Fotos prompt im Netz hochgeladen werden.
Doch die Busters entwickeln allmählich ein schlechtes Gewissen, wenn sie übergewichtigen Liebeshungrigen erniedrigende Selbstgeständnisse entlocken oder Rollstuhlfahrer quälen sollen. Immer wieder überraschen die Jugendlichen von Kabawil mit Tanzeinlagen, die von Breakdance und gewagten Powermoves bis zu Elementen des Modern Dance reichen (Choreografie: Othello Johns). Ganz zu schweigen von Rap-Einlagen, die mal als Solo mal als Chor mit viel Inbrunst gesungen werden.
Die Ebenen zwischen Virtualität und Realität vermischen sich immer mehr. Ein eingebildeter Anklagechor heizt Mickey kräftig ein, ein A-capella-Angstchat schildert die Beklemmung von Jugendlichen. Und Mickeys Mutter (Marion Maika) als Opfer des alleinerziehenden Multitaskings kann zunächst nicht helfen.
Sie hat keine Zeit für ihren Sohn und träumt in einem Duo von einem Partner. Fluchten allerorten, bis Mutter den Stecker zieht. Dem Ensemble unter Leitung von Marcus Lachmann und Renat Safiullin ist ein beeindruckender Abend gelungen, der mit vielen Bravi gefeiert wurde.