Cartoon Nadine Redlich: „Bei mir scheitern die Figuren 24 Stunden am Tag“

Düsseldorf · Die Düsseldorfer Illustratorin kreiert eine Kolumne im „Zeit Magazin“. Sie folgte auf Janosch. Ihre Hauptfiguren: Bunte Kartoffelmännchen mit emotionalen Fehlschlägen.

Nadine Redlich lässt ihre Kartoffelmännchen immer tragische Situationen durchleben.

Foto: Nadine Redlich

Zwei Kartoffelmännchen mit roten Knollennasen stehen vor einem leeren Sitz im Nachtbus. Der Hintergrund ist blau, ebenso die Sitze, das Gestänge grün. Das rosa Kartoffelmännchen guckt verdutzt. Das gelbe Kartoffelmännchen schaut verärgert und sagt: „Ich kann nichts dafür – wenn ich etwas wirklich meine, dann schreie ich einfach!!!“ Das ist der aktuelle Cartoon, den die Düsseldorfer Illustratorin Nadine Redlich im „Zeit Magazin“ in ihrer Rubrik „Fast überhört“ veröffentlicht hat.

Illustratorin Nadine Redlich vor ihrem Atelier in Friedrichstadt.

Foto: Sabrina Weniger

Die satirische Bildgeschichte lässt sich nicht klar deuten. Hat das gelbe Kartoffelmännchen das rosa Kartoffelmännchen brüllend aufgefordert, ihm den Sitzplatz freizumachen? Hatte er vielleicht vorher höflich darum gebeten und das rosa Männchen hat sich geweigert, aufzustehen? Sind wir Zeugen eines Generationenkonflikts, bei dem eine betagtere Person einen jüngeren Passagier lautstark um einen Sitzplatz bittet? Oder haben die beiden Kartoffelmännchen sich unterhalten, sind in einen Streit geraten, bei dem das eine die Fassung verlor, das andere angeschrien hat und nun auf sein cholerisches Naturell verweist?

Nadine Redlich liefert in ihren Cartoons keine Szenen mit eindeutigen Botschaften. Sie animiert den Betrachter dazu, an der Entschlüsselung mitzuwirken: Was war der Anlass für die Szene? Worauf reagiert eine Person mit ihrer Aussage? Was hat die andere Person zuvor gesagt?

Die 35-jährige Cartoonistin fängt in ihren „Zeit“-Kolumnen kleine Alltagsszenen ein, die sie unterwegs beobachtet hat. Als Hauptfiguren agieren immer zwei Kartoffelmännchen in unterschiedlichen Farben. Meistens produziert nur eine Figur eine Sprechblase. Ein Satz, der Teil eines Gesprächs ist, das aber nicht im Bild erscheint, sondern das sich der Betrachter hinzufantasieren muss. Etwa im vergangenen „Zeit Magazin“ vom 23. Januar: Auf grauem Trottoir vor rosaner Wand steht ein blaues Kartoffelmännchen mit überkreuzten Beinen und Smartphone in der Hand und erklärt seinem gelben Gegenüber: „Dann habe ich einfach alles geliked und jetzt warte ich ab.“ Das Männchen hat wohl Fotos, Videos, Texte und Stories auf Instagram und Facebook mit Herz- und Gefällt-mir-Button kommentiert und hofft nun auf Gegen-Likes und absolute Aufmerksamkeit in den Sozialen Medien – und damit vielleicht auch auf Jobs und Geld im digitalen Business. Was man in den Cartoons sicher weiß, sind die Schauplätze. Redlich schreibt sie rechts unten hinein: „Nachtbus“, „Unterrath S-Bahnhof“, „ICE 518“, „Rote Ampel“ oder „Ikea – Kaarst“.

Redlich verfolgt einen ganz anderen Stil als Janosch

Redlich verfolgt einen völlig anderen zeichnerischen und inhaltlichen Stil als Janosch, dessen Kolumne sie im „Zeit Magazin“ beerbt hat. Der 88-jährige Illustrator reagierte immer auf Fragen von Lesern, etwa: „Herr Janosch, wie wird man glücklich?“ Mit Aquarell setzte er seinen schnauzbärtigen Helden Wondrak gemeinsam mit Luise in Szene und ließ ihn antworten: „Glücklich wird man nicht allein. Wondrak ist glücklich, wenn Luise glücklich ist. Also schenkt er ihr etwas mit Diamanten drin. Klappt eigentlich immer.“

Redlich schätzt ihren Vorgänger Janosch, aber als neue Kolumnistin des „Zeit Magazins“ habe sie versucht, die großen Fußstapfen zu vergessen, sagt sie. Zuvor hatte sie in dem Heft die Rubrik „Die großen Frage der Liebe“ illustriert, lieferte aber auch Cartoons zu Berichten im Wochenmagazin, was sie auch weiterhin tut. Zuletzt setzte sie zum Artikel „Die Verwirrungstaktiker“ vier E-Autos in Szene, die genervt, wütend, ermüdet oder verwundert mit Ladekabeln an Steckdosen hängen. Es ging darum, dass die Bundesregierung die Elektro-Wägen mit noch mehr Milliarden Euro fördern wolle, die neue Prämie nicht auszahlen könne und die Schuld zu Unrecht auf Brüssel schiebe.

Nadine Redlich zeichnet in ihrem Atelier an der Jahnstraße, einem einstigen Kiosk mit großem Fenster. Pflanzen und Bäumchen stehen davor, ebenso ein Kartoffelmännchen aus Pappmaché. Großer Tisch, Federn, Rechner, Scanner, ein Regal mit Boxen voller Materialien, an den Wänden Zeichnungen und Zettel mit Ideen. Redlich begrüßt mich in schwarzem Pullover, schwarzer Dreiviertel-Stoffhose, Turnschuhen und Basecap über den blonden Haaren. Sie wirkt sympathisch, aufgeweckt und ist um keinen Spruch verlegen. Während wir uns unterhalten, fallen ihr Ideen für nächste Cartoons ein, die sie sofort auf einen Zettel notiert.

Ihre Cartoon-Helden erscheinen zeichnerisch stark reduziert, etwa ihre Kartoffelmännchen: birnenartiger Körper, dünne Ärmchen und Beinchen, Knollennase, Knopfaugen, der Mund angedeutet. „Es ist bei all’ meinen Comics so, dass ich sie so offen, stumpf und so grobmaschig wie möglich halte. Sie sind zum größten Teil Idee mit wenig Ausschmückung“, sagt Nadine Redlich.

Die Kartoffelmännchen hat sie aus Comedy-Shows und Comic-Figuren heraus entwickelt: Vor allem die „Peanuts“ von Charles M. Schulz, die britisch-amerikanische Puppen-Comedy-Serie „Muppet Show“ und die Fernseh-Serie „Sesamstraße“ haben sie geprägt: „Da ist von der langsamen Erzählstruktur und dem stumpfen Gesichtsausdruck viel drin in meinen Zeichnungen.“

Redlich war schon von Kindheit an fasziniert von Cartoons und Comics: „Ich war immer ein großer Fan von Disney Silly Symphony – diese kurzen musikunterlegten Sachen von Walt Disney. Tanzende Skelette bis hin zu Ferdinand, dem Stier. Das habe ich mir auf VHS aufgenommen und so lange angeguckt, bis die VHS ausgeleiert waren.“ Außerdem zeichnete Redlich schon im Kindergarten für ihre Mitstreiter Prinzessinnen und Dinosaurier. Während sie in Düsseldorf Kommunikationsdesign studierte, illustrierte sie für Werbeagenturen, betrieb einen Blog mit Arbeiten, bis Zeitungen und Magazine aus London und New York auf sie aufmerksam wurden. Schließlich wurden auch deutsche Zeitungen und Magazine neugierig, als erstes die „Zeit“.

In Redlichs Cartoons schwingt immer etwas Trauriges, Tragisches mit, etwa wenn ein grünes Kartoffelmännchen bedröppelt dreinschaut, weil es drei Fußfesseln mit Smiley-Kugeln tragen muss – gefangen in der Spaß- und Heiterkeitskultur der Sozialen Medien. „Meine Inspiration sind emotionale Fehlschläge. Bei mir scheitern alle Figuren 24 Stunden am Tag. Es ist leichter, sich über negative Gefühle lustig zu machen als wenn man Comics darüber macht, wie glücklich man ist. Es hat einen therapeutischen Effekt.“