Ehrung: Das Lesen als Ahnung eines anderen Lebens
Herta Müller erhielt die Ehrengabe der Heine-Gesellschaft bei einer Feierstunde im Savoy Theater.
Düsseldorf. Als die Jury der Heine-Gesellschaft im Februar beschloss, die Schriftstellerin Herta Müller zu ehren, da wusste sie noch nicht, welche Furore das neue Buch der aus dem deutschsprachigen Banat in Rumänien stammenden Autorin in diesem Herbst machen würde, betonte Joseph A. Kruse in seiner Begrüßung zum feierlichen Festakt im Savoy Theater.
"Atemschaukel" heißt der Roman, der von fünf Jahren Zwangsarbeit im Gulag erzählt, mit einer Sprache, die so genau wie poetisch die Qualen von Hunger und Erniedrigung erfasst. Er ist im Hanser Verlag erschienen und steht derzeit auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis.
75 000 Rumäniendeutsche wurden im Januar 1945 deportiert; "Hand aufs Herz: wussten Sie das?", fragte Laudator und "Zeit"-Herausgeber Michael Naumann die zahlreichen Zuhörer und erinnerte an den blinden Fleck im linken Auge vieler deutscher Intellektuellen, die sich nicht für den Totalitarismus in Osteuropa interessierten.
Heinrich Heine war da hellsichtiger. In "Lutezia" hatte der Freund von Karl Marx vor einem Sieg der Kommunisten gewarnt: Es hätte einen "Hirten mit eisernem Stab" zur Folge. Unter einem dieser Hirten, nämlich Ceausescu, hatte die junge Herta Müller zu leiden, bevor sie 1987 in die Bundesrepublik ausreisen konnte.
Wie Heine ist Herta Müller eine politische Autorin mit einer kraftvollen, poetischen Sprache, darin waren sich Jury und Laudator einig. Wie Heine war sie Opfer staatlicher Zensur, wurde in die Emigration getrieben und schätzte als höchstes Gut "die selbstbewusste Freiheit des Geistes".
In der Begründung der Jury heißt es: "... literarisches Experiment und Bildschöpfungen, demokratisches Bewusstsein und widerständiger Mut, Intelligenz und Beharrlichkeit zeichnen das poetische Werk von Herta Müller aus."
In ihrer Dankesrede erklärte die zierliche 56-jährige Autorin, warum sie kaum von Heinrich Heine beeinflusst war. In Rumänien "las ich aus außerliterarischen Gründen". Gemobbt, bespitzelt, in ständiger Furcht vor den Verhören der Securitate, war das Lesen ein "Angstfüttern", ein Abtauchen in die Ahnung eines anderen Lebens. Den Inhalt der Bücher hätte sie meistens sofort wieder vergessen, darum taugte ihre Bildung nichts. Um Klassiker zu verstehen, hätte es eines geistigen Freiraums bedurft.
Wenn sie heute die "Loreley" liest, dann sieht sie nicht den Rhein vor sich, sondern die Donau, und der Schiffer wird in ihrem Kopf zu einem Flüchtling, der von den "goldenen Haaren der Schiffsschraube zerstückelt wird". Das ist Herta Müllers bedrückende Lesart von Heinrich Heines "gewaltiger Melodei": die Klage über einen Fluchttoten.