NRW-Akademie Aufbruchstimmung in der Fotokunst
Die Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste beschäftigt sich in einer Ausstellung mit Grenzüberschreitungen in der Fotografie. Sie beweist: Alles ist im Fluss.
Waren das noch Zeiten, als die wesentlichen Zutaten der Fotografie aus analogen Kameras, der Belichtung auf Film und der Entwicklung im Labor bestanden. Keine Computer, keine Bildbearbeitungsprogramme, keine Social-Media-Filter, erst recht keine Algorithmen. Manche, von der bunten Inflation erschlagen, sehnen sich nach dieser grauen Vorzeit zurück. Doch entschädigt die digitale Fotografie für das Tohuwabohu überreichlich durch den immensen Zugewinn an Möglichkeiten, sich ein Bild von der Welt zu machen. In besonderem Maße gilt das für die Fotokunst. Dass die Dinge hier mächtig im Fluss sind, davon kündet nun eine Ausstellung, die bis Mitte September in den Foyers der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste zu sehen ist. „Leap of faith: Transmediale Fotografie“, so lautet ihr Titel. Klassische Fotografien, konventionell ins Rechteck gebracht und ordentlich gerahmt, spielen hier keine Rolle. Die 27 Künstler, die der Kurator Steffen Siegel eingeladen hat, gehen die Auseinandersetzung mit der Fotografie ganz anders an – indirekter, subtiler, über Umwege ans Ziel kommend.
Die Akademie an der Palmenstraße, untergebracht in einem Musterbeispiel der Bauhaus-Moderne, errichtet 1969 von Hans Schwippert, haben vornehmlich Insider als Ort der Kunst auf dem Zettel. Dabei kann der Thinktank, in dem herausragende Geistes- und Naturwissenschaftler, Mediziner und Ingenieure Ideen austauschen und Visionen entwickeln, als einzige wissenschaftliche Landesakademie in Deutschland mit einer eigenen Klasse der Künste aufwarten.
2008 wurde sie gegründet. Drei Künstler der aktuellen Ausstellung – Tony Cragg, Mischa Kuball und Thomas Ruff – gehören der NRW-Akademie ebenso an wie der Kurator, Steffen Siegel. Der Professor für Theorie und Geschichte der Fotografie an der Folkwang-Universität der Künste ist vermutlich der Einzige innerhalb der erlauchten Akademie-Gilde, der als Jugendlicher auf dem Rennrodel-Schlitten mit beinahe 100 Kilometern auf der Eisbahn Gas gab. Von einem ebenso forschen wie forschendem Geist kündet auch das Konzept seiner Schau.
Mikroskopische Nahaufnahmen, computertomografische Scans, ausrangierte Dias oder Fotopapierabfall – solchen Phänomenen begegnet man bei „Leap of faith“, was übersetzt „Sprung ins Ungewisse“ heißt. Obwohl also nicht fotogen im herkömmlichen Sinne, sind diese Variationen zur Lichtkunst im digitalen Zeitalter ein Augenöffner. Und sie stellen die Vertrauensfrage: Ist auf die Authentizität fotografischer Bilder noch Verlass, wenn inzwischen KI-Generatoren auf Zuruf Computergrafiken erzeugen, die sich von ‚richtigen’ Fotos nicht mehr unterscheiden lassen?
Bei Tony Craggs Tableau „Micro – The Studio“ darf man zuversichtlich sein, dass sich die 18 Tafeln an die Wirklichkeit halten, obwohl die Motive keinen Wiedererkennungswert haben. Der Grund: Der Bildhauer hat Utensilien aus seinem Atelier durchs Elektronenmikroskop so nah herangezoomt, dass Pinsel und Stifte aussehen wie abstrakte Kunst. Einer technischen Apparatur bediente sich auch Mischa Kuball zur Erstellung seiner Serie „image_apparatus_CT-flash“: Hierfür hat der Düsseldorfer Künstler 17 fotografische Geräte von einem Computertomografen durchleuchten lassen. Die so entstandenen Schnittbilder faszinieren durch Lichteffekte, die einer kontrollierten künstlerischen Intervention in nichts nachstehen.
Operieren Craggs und Kuballs Werke immerhin noch im Rahmen des fotografischen Bildes, so käme bei Joanna Nenceks Arbeit „Frameworks“ ohne Vorwissen kaum jemand auf die Idee, hier handle es sich um einen Beitrag zu einer Fotografie-Ausstellung. Doch tatsächlich: Die Rohrverbinder hat die Künstlerin aus Fotopapierabfall zu einem ebenso filigranen wie wackligen Rahmenwerk zusammengefügt. Noch weiter vom fotografischen Normalfall entfernt sich Alex Grein mit ihrer Installation „Speicher“. Ausdrucke von Bildern lässt die Meisterschülerin von Andreas Gursky erst im Eisschrank gefrieren, um die Eisblöcke anschließend in Smartphone-Halterungen einzuklemmen. Stahltische fangen die beim Auftauen entstehenden Wasserlachen auf. So schmelzen die Bilder förmlich dahin. Alles ist im Fluss – für die Fotografie scheint das ganz besonders zu gelten.