Vor der Premiere von „Anatevka“ Der Milchmann und die russische Armee

Düsseldorf · Regisseur Felix Seiler inszeniert im Düsseldorfer Haus der Rheinoper das Musical „Anatevka“. Wie wird die Produktion von den aktuellen Kriegsereignissen bestimmt?

Szene aus den Proben zu „Anatevka“ in der Düsseldorfer Rheinoper.

Foto: DOR/SANDRA THEN

The Fiddler on the Roof – das ist eines der bekanntesten Motive Marc Chagalls, des französischen Malers polnisch-jüdischer Herkunft. „Verrückt, nicht wahr?“ findet Tevje im Musical „Anatevka“ das Motiv – und zugleich passend. Anatevka ist eine kleine, von Juden bewohnte weißrussische Siedlung. Es geht um Heimat, Familie, Heirat, deren Vermittlung und die listenreiche Verweigerung derselben, auch um Antisemitismus, Verfolgung und Vertreibung. Über allem thront die Tradition, die Halt geben soll – doch sie ist in diesen Zeiten so unsicher wie der Fiedler auf dem Dach.

Rituale sind wichtig, sie geben Halt. Erzählt wird die Geschichte von Tevje, seiner Frau Golde und ihren fünf Töchtern, drei davon im heiratsfähigen Alter. Wann es soweit ist und wer sie bekommt, bestimmt die Tradition in Person der Heiratsvermittlerin Jente. Traummänner gibt es nur im Traum, es sei denn, Tevje holt einen davon da raus, um seine Frau zu überzeugen – entgegen der Tradition. Doch die Traumhochzeit seiner Ältesten stürmt die russische Armee mit brutaler Gewalt. Am Ende – gar nicht happy wie gewöhnlich in Musicals – wird die jüdische Gemeinde aus ihrem Schtetl vertrieben, verliert Heimat und Halt.

In diesem Treiben die Balance zu halten wie der Geiger auf dem Dach, ist nicht einfach weder im fiktiven Dorf noch in der Inszenierung vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse. Die Kriegsgeschehen in Nahost und in der Ukraine lassen sich kaum ausblenden, so unvorstellbar sie auch sein mochten, als Felix Seiler vor zweieinhalb Jahren die Anfrage bekam, das Stück am Rhein zu inszenieren. Es ist seine erste Regiearbeit für die Deutsche Oper am Rhein.

„Anatevka“ spielt im Jahre 1905, noch zur Zarenzeit, kurz vor der Revolution. Und da soll es auch bleiben. Man dürfe die Zeitachse nicht verschieben, meint Seiler: „Es ist eine jüdische Familiengeschichte im Russland unter dem Zaren. In dieser Zeit muss man es lassen, offen und unmittelbar erzählen, auch wenn es gerade Parallelen zur Gegenwart gibt.“ Für ihn kein Grund, nachträgliche Änderungen oder Anpassungen in der Inszenierung vorzunehmen.

Seiler ist sicher „Die in ,Anatevka’ angesprochenen Werte sind zeitlos. Das Publikum wird das Stück auch so verstehen und für sich richtig interpretieren.“ Und sicher auch das spektakulär simple Bühnenbild (Nikolaus Webern) zu deuten wissen. Man habe im Vorfeld viel herumexperimentiert, erzählt Seidel während der Proben. Folklore sollte vermieden werden. So sieht man keine pittoresken Bauernhäuser, und der Chor singt nicht in ärmlichen Gewändern (Kostüme: Sarah Rolke). Das Bühnenbild (Nikolaus Webern) ist eine wehende Botschaft aus großen weißen Tüchern: Der Stoff, aus dem der Frieden ist? Wohl kaum. Von vorne ist er blickdicht, doch von hinten beleuchtet wird er durchscheinbar. Nichts bleibt verborgen, alles kommt ans Licht, alle bekommen alles mit, nichts und niemand ist sicher.

„Anatevka“ basiert auf dem 1894 erschienenen Roman „Tevje, der Milchmann“ des russisch-jüdischen Schriftstellers Scholem Alejchem. Die Liedtexte stammen von Sheldon Harnick. Das 1964 in New York uraufgeführte Musical (Originalregie: Jerome Robbins) lief zehn Jahre ununterbrochen am Broadway, brach mit über 3000 Vorstellungen sämtliche Rekorde und erhielt zahlreiche Preise, darunter neun Tony Awards. 1968 folgte die deutsche Premiere mit Shmuel Rodensky in der Hauptrolle, Ivan Rebroff sang sie in Paris. 1971 wurde die Geschichte erfolgreich verfilmt, für den Oscar in acht Kategorien nominiert und erhielt schließlich drei Goldjungen.

Im Ohr bleibt vor allem die Musik von Jerry Bock. In den eingängigen Broadway-Sound mischen sich melancholische Anklänge jüdischer Musik. Die Düsseldorfer Symphoniker spielen unter der musikalischen Leitung von Harry Ogg alternierend mit Christoph Stöcker. Mancher Zuschauer wird vielleicht auf dem Nachhauseweg noch „Wenn ich einmal reich wär“ summen wie zuvor Andreas Bittl auf der Bühne.

Wie ist „Anatevka“ heute einzuordnen, E oder U, Ernst oder Unterhaltung? Felix Seiler: „Das beantworten wir natürlich nicht, weil es beides ist und die Trennung gar nicht braucht.“ Das Geheimnis des Stücks ist für ihn die Lebensfreude, vielmehr Überlebensfreude des Milchmanns Tevje, der „Sunrise, Sunset“, tagein, tagaus, weder seinen verschmitzten Humor noch die Hoffnung verliert, dass es immer weitergeht, irgendwie, irgendwo.

Auch mit dem Musical „Anatevka“, das nach seiner Uraufführung am Broadway vor 60 Jahren nie von den Spielplänen verschwand. Gerade inszeniert es Ulrich Wiggers für die diesjährigen Domstufen-Festspiele in Erfurt. Open Air wird es auch in der Burgruine in Leuchtenberg in der Pfalz aufgeführt. Barrie Koskys Berliner Inszenierung für die Komische Oper begeisterte sogar in Chicago.

Bittere Ironie der Geschichte: Das fiktive Dorf ist inzwischen Realität. 2014 wurde für vor dem russisch-ukrainischen Krieg geflüchtete Juden in der Nähe von Kiew das Dorf Anatewka gegründet, nach dem russischen Überfall auf die Gesamtukraine 2022 dient es erneut als Auffangstation für Menschen auf der Flucht.