Gastbeitrag Von der Kunst des Wartens

Düsseldorf · Unser Autor wollte eine Fotoausstellung besichtigen und lernte vor dem Eingang fast so viel wie dahinter.

Das Ziel und der gute Grund des Wartens unseres Autoren: die Bilder in der Peter-Lindbergh-Ausstellung im Kunstpalast.

Foto: dpa/Fabian Strauch

Das Leben kennt bestimmte Naturgesetze. Sie sollen die Orientierung und Positionierung im Alltagsleben erleichtern. Dazu gehört auch das legendäre Gesetz der falschen Schlange. Jeder, der schon mal im Supermarkt gewartet hat, kennt das Gesetz. Man vertraut sich, ob bewusst oder ahnungslos, immer der falschen, sprich zu langen oder zu langsamen Schlange an. Auch von einem fliegenden Wechsel der Schlange noch kurz vor der Kasse lässt sich das Gesetz nicht täuschen.

Ebenfalls bestens bekannt ist der gemeinsame Auftritt von Schlangen und Kunst. Schlange stehen und Kunst sehen und verstehen, gehören zusammen wie das doppelte Lottchen. Natürlich gibt es natürliche Schlangen, aber auch künstliche. Die natürlichen Wartereihen kennen wir zum Beispiel von der langen Nacht der Museen, da gehört das Warten schon zum Gemeinschaftserlebnis. Eine Schlange in der Kunstszene ist ein imageträchtiger Ausdruck von Attraktivität und Qualität von Kunst und Künstler, gleich ob im Louvre in Groß-Paris oder im Kunstpalast in Klein-Paris. So wie jeder Schriftsteller auf ausverkaufte Auflagen stolz ist, freut sich jeder Künstler über Schlangen vor seinen Werken.

Die Schlange vor dem Einlass zur Fotoausstellung von Peter Lindbergh im Kunstpalast hätte der Pariser Foto-Künstler sicher gern noch erlebt. Der von uns erlebte Besucherstau ist eine Gemeinschaftsaktion von Corona und Kunstpalast. Nach dem Ende der virologisch verordneten Zwangs-Kunstpause zog es uns in die Ausstellung. Die corona-bedingte Verlängerung sollte und musste genutzt und honoriert werden. Zumal die Art:Card in der Brieftasche – ebenfalls mit verlängerter Gültigkeit – für einen zusätzlichen Besuchsantrieb sorgte.

Doch vor dem Einlass haben die klugen Köpfe des Kunstpalastes die Qual der Wahl verordnet. Der erste Schritt zum Blick in die lohnenswerte Ausstellung folgt über die Wahl der richtigen Schlange vor der Tür. Zunächst nähert man sich wie immer bei der Schlangenbildung etwas zögernd und unsicher dem Ort des Wartens. Man versucht, sie zu sehen und zu verstehen. Wo ist der Anfang, und noch wichtiger, wo ist das Ende der Schlange? Auf den ersten Blick erinnerte die Ansammlung der Kunstfreunde im Ehrenhof an die Art eines lockeren gleichschenkligen Dreiecks. Die Hypotenuse wurde von einer Gruppe Wartender am Brunnen gebildet. Sie hatten es sich zum Schlangesitzen auf den Steinen bequem gemacht. Die beiden Seiten des Dreiecks trafen sich in der Spitze bei einem Schild mit der Aufschrift „Kasse“. Wichtigste und einzige Bezugsperson am Zusammentreffen der beiden Schlangen-Spitzen war ein Außendienst-Mitarbeiter des Kunstpalastes. Man erkannte ihn problemlos daran, dass er als einziger der Versammelten einen dunkelblauen Anzug mit roter Krawatte trug.

Nach der ersten Rund-um-Umsicht haben sich meine Frau und ich in die linke und etwas kürzer scheinende Schlange eingereiht. Zunächst ist alles in diesem Open-Fresh-Air-Wartezimmer ruhig. Nichts passiert. Was macht man, wenn man zusätzliche Zeit geschenkt bekommt? Man macht sich so seine Gedanken. Ist in der Warteschlange nicht schon das wichtige Wort „Warte lange!“ verborgen? Mit Hinter- oder Vordermann zu parlieren und den Wartefrust zu teilen, war wegen der Abstands- und Maskenpflicht offiziell nicht möglich und durch den dämpfenden Stoff auch recht mühsam.

Unsere beiden Vorderleute in der Schlange gaben frustriert auf. Wir durften daher eine Wartestufe aufrücken. Mit der stillen Schlangenpost erfuhren wir, dass immer nur dann jemand eingelassen wird, wenn entsprechende andere Besucher das Haus verlassen. Irritierend war nur, dass man niemanden sah, der das Haus durch den Hauptausgang verließ. Das führte zu dem Eindruck bei den Wartenden, dass sich hier vor der Tür so gar nichts bewegen wollte. Nach vorne ging es in der Schlange nur, wenn wieder mal jemand frustriert die Schlange verließ.

Auf einmal wurde die Ruhe gestört nicht durch Lärm, sondern durch eine Regieanweisung. Der Mann in Blau forderte die aus seiner Sicht rechte Reihe auf, zur Einlasskontrolle zu kommen. Und jetzt fiel es uns endlich ins Auge: Die Wartenden der rechten Schlange wedelten stolz mit einem Din-A4-Blatt in der Hand. Andere hielten ein Handy-Display nach oben. Sie durften nach dem Scannen von Blatt oder Handy-Display ins Museum einrücken. Auf einmal hatte sich auch die wartende Hypotenuse am Brunnen aufgelöst.

Mit dem Blatt Papier oder Handy in der Hand schlossen sie sich den Vorangemeldeten der digitalen Online-Generation an. Für unsere Offline-Schlange der traditionell analogen Besucher hatte sich durch die Bewegung der Schlange nichts verändert. Alles blieb beim Alten. Die Unruhe und Unzufriedenheit wuchs, nicht zuletzt wegen des näher rückenden Schließungstermins der Ausstellung. Ich legte meine gewohnte Zurückhaltung ab. Beim Einlassverwalter brachte ich unsere Art:Card mit Nachdruck als Türöffner ins Spiel. Doch die Kunst-Dauerkarte kam gegen Online nicht an. Ich wurde wieder auf die Plätze verwiesen. Und die Masken vor unser aller Münder verhinderten auch durch die gedämpfte Sprechweise das Aufkommen persönlicher Dispute.

Nach der nächsten Einlass-Aktion spitzte sich die Lage zu. Wieder wurden nur die Wartenden eingelassen, die sich zu Hause eine Einlasskarte haben ausdrucken oder aufs Handy speichern lassen. Das führte sogar so weit, dass Besucher, die gerade erst angekommen waren, an unserer Warteschlange vorbei sofort zum Kassenschalter durchgehen durften. Unsere Schlange, die jetzt schon seit einer Stunde dort ausharrte, hatte im wahrsten Sinne das Nachsehen.

Warum macht man es nicht so, wie es an Baustellen und Verengungen anderswo geregelt wird: nach den Reißverschlussverfahren? Ein Wartender rechts online, ein Wartender links offline und so weiter. Irgendwann kam dann doch der Moment, dass die Internet-Schlange stark geschmolzen war. Nun hatte der Mann in Blau ein Einsehen. Auch unsere Schlange durfte einziehen. Lange hätte die disziplinierte Geduld auch nicht mehr gegen das Gefühl der Ungerechtigkeit standgehalten. Zum Glück war die Fotoausstellung so eindrucksvoll, dass der Warte-Ärger bald verflogen war. Zum guten Schluss gab es übrigens einen Hinterausgang, den man dann ganz ohne Wartezeit benutzen konnte.

Der Autor Eberhard Gebauer lebt in Benrath, ist viel in Düsseldorf unterwegs und schreibt seine Beobachtungen regelmäßig in Gastbeiträgen für unsere Redaktion auf.