Marlúcia do Amaral - eine Tänzerin glaubt an die große Liebe
Die Ausnahmetänzerin wollte als Kind so ruhmreich sein wie Wonder Woman. Ihrer Mutter wurde es bald zu bunt. Seither schwärmt do Amaral für Anti-Helden.
Frau do Amaral, was war so bemerkenswert an WonderWoman?
Marlucia do Amaral (lacht): Der Bikini. Er hatte Sternchen, das fand ich toll. Ich war sechs. Meine Mutter hat mir das Kostüm besorgt. Ich habe es ständig getragen und gerufen: „Ich bin Wonder Woman“. Allerdings wurde ich dann häufiger krank. Ich komme aus einer Region in Brasilien, wo es im Winter mit nur zehn Grad relativ kalt ist. Ein Bikini ist da denkbar ungeeignet. Irgendwann hat meine Mutter wegen meiner Dauererkältung durchgegriffen und ich musste mein Wonder-Woman-Dasein aufgeben.
Gab es einen angemessenen Ersatz?
do Amaral: Nein. Wonder Woman war die einzige triumphale Heldin, die mich beeindruckt hat. Mir liegen eher die Anti-Helden. Figuren wie Florentino Ariza aus dem Roman „Liebe in den Zeiten der Cholera“ von Garcia Marquez. Er ist gar nicht ruhmreich, eher ein Verlierer als ein Gewinner. Beinahe 70 Jahre muss er warten, bis er seine große Liebe in Armen hält und nimmt dafür vieles in Kauf.
Sie setzen also gerne mal die rosarote Brille auf?
do Amaral: Ich glaube an die große Liebe, ja! Ich bin eine Romantikerin. Ich versuche zwar, mich dagegen zu wehren und sage mir: Marlu, das ist Quatsch. Aber ich verliere jedes Mal. Ich bin eben ein emotionaler Typ. Vielleicht liegt es am Alter, ich bin ja schon 35. Da tut ein Florentino Ariza gut. Er strahlt Romantik aus, ist aber als Charakter bodenständig. Darin ähnelt er einer anderen bemerkenswerten literarischen Figur — Tieta.
Tieta?
do Amaral: Ja, Tieta de Agreste. So heißt die Hauptfigur des gleichnamigen Romans von Jorge Amado. Und es ist bemerkenswert, dass er als Mann das Universum einer Frau so gut beschreiben konnte. Tieta ist auch eine Anti-Heldin. Sie hat klare Vorstellungen vom Leben und lässt sich nichts vorschreiben. Sie sagt, was sie denkt, schläft, mit wem sie will. Und das in den 50er Jahren! Tieta war eine Rebellin und hatte bereits die Attitüde einer Frau aus dem 21. Jahrhundert. Sie ist erst 17, als des Dorfes verwiesen wird und nach Rio geht. Dort stellt sie allerhand an, um sich über Wasser zu halten. 20 Jahre später kehrt sie nach Agreste zurück — und es geht gut.
Wie alt waren Sie, als Sie Marquez und Amado gelesen haben?
do Amaral: Als ich begann, Amado zu lesen, war ich 14, als ich Marquez entdeckte 17 Jahre alt.
Ihr Weg zur Tänzerin verlief auch nicht geradlinig. Es gab Unterbrechungen und Zeiten, da wollten sie nicht einmal mehr Tänzerin werden. Haben Sie manchmal an Tieta oder Florentino gedacht?
do Amaral: Nicht konkret, aber die Essenz ihrer Lebensführung kommt einem wieder in den Kopf. Das ist auch aktuell wieder so, jetzt, da ich mich frage: Wie geht es für mich weiter? Als Künstlerin und als Frau.
Und da sind Außenseiter die besseren Ratgeber?
do Amaral: Anti-Helden sind mir einfach näher. Mit ihren Unzulänglichkeiten und Fehlern stehen sie mitten im Leben. Das ist Menschlichkeit. Nur deshalb wagt man es als Leser überhaupt, sich von ihnen etwas abzuschauen. Wenn ein Buch dies erreicht, dann ist es in meinen Augen gute Literatur.
Sie trainieren täglich mit dem Ballett am Rhein unter Martin Schläpfer, haben abends oft Vorstellungen. Wann finden Sie Zeit zu lesen?
do Amaral: Nachts und wenn ich frei habe. Es gibt immer Zeit, und ich lese viel.
Sie sprechen Portugiesisch, Deutsch und Englisch. In welcher Sprache lesen Sie?
do Amaral: Möglichst abwechselnd in allen drei Sprachen. Das gelingt aber nicht immer. Vor allem Rilke möchte ich endlich auf Deutsch kennen lernen, die „Briefe an einen jungen Dichter“, die ich bislang nur in englischer Sprache gelesen habe. Die deutsche Ausgabe liegt schon länger bei mir zu Hause. Das Werk müsste jeder Künstler lesen. Es gibt ungeheuer viel Kraft für das, was wir tun.
Lesen Sie Bücher auch mehrfach? Um Ihren Anti-Helden wieder nahe zu sein?
do Amaral: Nein. Es gibt nur eine Ausnahme: „Das Parfum“ von Patrick Süskind. Das habe ich sieben Mal gelesen. Was Jean-Baptiste Grenouille macht, ist gruselig, zugegeben. Am Ende jedoch ist auch er nur auf der Suche nach Liebe.