Retzlaff und wie er die Stadt sah
Jürgen Retzlaff hat von 1955 bis 1995 für unsere Zeitung fotografiert. Seine Bilder sind ab Dienstag in einer Ausstellung im Stadtarchiv zu sehen. Wir widmen unserem Kollegen fünf Seiten in dieser Ausgabe.
Einen guten Rat hatte ein Kollege für mich, als ich Anfang der 90er-Jahre in der Düsseldorfer Lokalredaktion anfing: „Den Jürgen darfst du nicht am Sonntagmittag anrufen, da isst er mit seiner Mutter zu Mittag.“ Sonntagsdienst hin oder her. Ja, so war das eben. Kunst kommt von Können — und von Muße. Die hatte ein „Bildhauer“, wie wir die Kollegen mit der Kamera manchmal nannten, damals sicher in größerem Maße als heute. Und man merkt es den Aufnahmen an. Wer sich die Bilder in der Ausstellung (oder im Begleitbuch „Durchschau — Rückblick. Jürgen Retzlaff — Pressefotografie in Düsseldorf 1955-1995“) anschaut, der wird buchstäblich in eine andere Zeit versetzt. Es scheint eine Zeit zu sein, in der die Menschen noch staunen können über Kleinigkeiten — Kinder, die mit offenem Mund und herausgestreckten Zungen Schneeflocken aufzufangen versuchen oder selbstvergessen dem Puppentheater auf der Straße folgen.
Natürlich hat Jürgen Retzlaff auch die Großen der damaligen Welt eingefangen, die offenbar alle mal in Düsseldorf waren: Prinz Philipp und Queen Elisabeth, Königin Beatrix und Prinz Claus, Winston Churchill, Alfred Hitchcock, Gunter Sachs und Andy Warhol: Es sind starke Bilder. Aber am eindrücklichsten finde ich seine Aufnahmen von alltäglichen Begebenheiten, die sich irgendwo auf den Straßen der Stadt abspielen und kleine Geschichten erzählen. Der Junge, um den sich ein Polizist nach einem Wohnungsbrand fürsorglich kümmert — man sieht es allein an der Haltung des Uniformierten. Und was noch auffällt: Der Fotograf war immer ganz nah dran. Nicht umsonst nannte die Feuerwehr ihn den „Mann, der immer schon vor uns da war“. Sieht man sich die Fotos von einer Bombenentschärfung vor dem Kaufhof 1969 oder von einem Flugzeugabsturz 1957 an, dann ist man selbst schon mitten drin im Geschehen. Gestochen scharf, klar konturiert, ein Blick auch für die Skurrilitäten des Alltags, etwa wenn ein Kind auf Stelzen auch noch die Hundeleine hält und der Kläffer sich jeden Moment davonmachen könnte — das alles ist auf einen Blick erfassbar und erlebbar.
Allerdings: Das Foto von einem Einkaufsbummel, auf dem nur Frauenbeine und Taschen zu sehen sind, wäre heute wohl nicht mehr zeigbar. Aber auch so hat er eben seine Stadt gesehen, der liebe Jürgen Retzlaff.