Stadt-Teilchen Früher gab es weniger Gewalt und Drogen? Von wegen!
Bei einem in der Bahn belauschten Gespräch zweier Damen ist berichtigendes Einmischen geboten.
Früher war das nicht so schlimm“, hörte ich kürzlich eine ältere Dame in der Bahn zu ihrer Begleitung sagen. „Früher war die Jugend brav, da gab es nicht so viel Gewalt und Drogen“, fügte sie noch hinzu, als ich mich ungefragt in das Gespräch einmischte. „Früher war alles früher“, sagte ich keck und präsentierte mein freundlichstes Lächeln. Prompt blickte ich in vier erschrockene Augen, die ganz offensichtlich nicht wussten, ob sie mich nun als Gefahr oder Bereicherung ansehen sollten. „Keine Angst“, sagte ich: „Ich wollte ihnen nur mal was von früher erzählen, von der Gewalt und den Drogen.“ Und dann legte ich los.
Ich erzählte von meiner Jugend in Bilk, wo wir im Jugendklub an der Kopernikusstraße zitterten, wenn jemand ankündigte, dass gleich die vom Fürstenplatz zu Besuch kämen. Die vom Fürstenplatz, das waren die Schläger, das wussten wir. Wenn die kamen gab es aufs Maul. Einen Anlass brauchten die Kerle nicht. Sie hauten einfach zu. Razzfazz war die Fresse dick.
Noch schlimmer waren allerdings die Gangs aus Eller. Wenn die in unserem Jugendklub einfielen, machte man sich besser eilig davon, auf dass es einen nicht erwische. Polizei rufen half da nicht. Die Herren Polizisten ließen sich in der Regel viel Zeit. Meistens kamen sie, wenn die Schläger längst wieder in ihren Betten schlummerten. Es ging gar die Mär, dass die Beamten um die Ecke warteten, bis der schlimmste Aggressionsrausch sich gelegt hatte. Erst dann fuhren sie vor.
Mich ereilte es einmal auf der Merowingerstraße. Ich ging meiner Wege und dachte an nichts Böses, als ich plötzlich an zwei Kerlen vorbeimusste. Ich trödelte unschuldig meiner Wege, doch als ich auf gleicher Höhe mit dem Duo war, spürte ich einen brennenden Schmerz in der Nase. Einer von beiden hatte mir ansatzlos eine reingehauen. „Was hab ich dir getan?“, stammelte ich hilflos und staunte über die zugehörige Replik. „Dein Nas passt mich nich.“
Ja, so war das früher in Bilk“, erzählte ich den staunenden Damen, die auf einmal auch noch ein paar Anekdötchen parat hatten. Ja, Gewalt habe es schon immer gegeben, räumten sie ein. Aber doch nicht so schlimm. „Doch, genau so schlimm“, entgegnete ich und holte die Geschichte meiner ersten Bilk-Stunden hervor. Als ich 1962 sieben Jahre alt war, sind meine Eltern von Heerdt an die Ulenbergstraße gezogen. Dort gab es auf dem Gelände, wo heute Schnellstraße und Schrottplätze den öden Ton angeben, jede Menge Schrottplätze und Altpapierverwerter. Ein unübersichtliches Gewirr.
Genau das wollte ich inspizieren und staunte über die abenteuerlich anmutenden Räume, die nur über schlammige Wege zu erreichen waren. Auf einem dieser Wege ereilte mich mein Schicksal. Plötzlich stand eine Bande von vielleicht Zehnjährigen vor mir und machte unmissverständlich klar, dass meine physische Integrität in hohem Maße davon abhing, dass ich ihnen den Inhalt meiner Taschen aushändigte. Es wechselten 70 Pfennig die Taschen. Für mich ein herber Verlust, für die Jungs vom Schrottplatz wohl nur so etwas wie Zwischenbeute. „Da gab es aber noch nicht so viele Drogen“, versuchte eine der Damen einen letzten Relativierungsversuch.
Da hatte sie aber die Rechnung ohne mich gemacht, denn nun packte ich die Geschichten von der Neubrückstraße aus. Die war 1971 die Drogenmeile schlechthin. Wenn man vom Grabbeplatz zur Ratinger Straße wollte, musste man durch eine dichte Menschenmenge, in der stets jemand zischelte. „Shit, Trips“, hieß es, und wenn man wollte, kriegte man dort alles, was verboten war. Dazu standen da jede Menge Menschen, die das Angebotene offenbar schon intus hatten. Die fielen nicht einmal groß auf, weil man da halt so rumstand vor dem Creamcheese und dem Clou. In die Lokale rein traute ich mich nicht, weil drinnen die Kellner Jagd auf uns Schüler machten und immer wollten, dass man etwas trank. Wir entwickelten dann die Technik, uns den ganzen Abend an einer Cola festzuhalten und im Creamcheese den Tanz um die Tanzfläche zu tanzen. Das war nötig, weil wir dem Kellner Egon aus dem Weg gehen mussten, der uns neue Getränke aufdrängen wollte. Wäre ich damals schon Musiker gewesen, hätte ich sicherlich bald den Hit „Tanz den Egon“ gehabt.
Natürlich haben wir das, was vor der Tür so angeboten wurde, auch probiert. Nicht jeder alles, aber hier und da haben wir schon mal genascht. Mann, wir waren jung und schlecht in der Schule. Unsere Eltern schienen nicht sonderlich interessiert an uns, da schien es auf der Neubrückstraße regelrecht heimelig.
Die beiden Damen hatten immer noch große Augen, als ich an der Henrich-Heine-Allee die Bahn verließ. Ich entschloss mich dann, mal kurz an der Neubrückstraße vorbeizuschauen. Es war ein ernüchterndes Erlebnis. Altstadt-Tristesse. Früher war hier mehr los.