Stadt-Teilchen Freischwimmer ja, aber: Wasser ist nicht meins

Beglaubigt: Am 20. Juli 1967 bin ich 15 Minuten ununterbrochen geschwommen:

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Ich habe kürzlich beim Durchforsten alter Akten mein Freischwimmer-Zeugnis gefunden. Ein kleines Stück Pappe mit hellgrüner Farbe auf weißem Grund. Da drin steht, dass ich am 20. Juni 1967 unter Aufsicht 15 Minuten ununterbrochen geschwommen bin und einen Sprung aus einem Meter Höhe absolviert habe. Ich las das und trat augenblicklich eine Reise in die Vergangenheit an.

Obwohl der von einem Sportlehrer des Geschwister-Scholl-Gymnasiums attestierte Vorgang nunmehr fast 50 Jahre her ist, hatte ich sofort ein Bild vor Augen. Ich sah die riesige alte Badeanstalt an der Kettwiger Straße, die laut der Aussage eines Historikers einst das „besteingerichtete Bad in Westdeutschland“ war. Deutsche Rekorde, ja sogar Weltrekorde seien hier geschwommen worden. Ich kann dem zustimmen, denn auch mein Freischwimmer-Zeugnis zeugt von einem Weltrekord. Ich behaupte einfach mal, dass niemals zuvor und niemals danach ein Schwimmer so oft Halt am Rand des Beckens suchte wie ich.

Ich wusste, dass unser Sportlehrer vor allem Augen für die Leistungsschwimmer hatte und dementsprechend die Freischwimmer-Aspiranten immer mal wieder aus dem Blick ließ. Ich nutzte das schamlos aus und klammerte mich an die Ablaufrinne, so oft es ging. Von wegen 15 Minuten ununterbrochen schwimmen. Ehrlich gesagt, war ich ein miserabler Schimmer. Ich bin das heute noch. Ich kann aus dem Stand zehn Kilometer joggen, aber wenn ich 200 Meter schwimmen soll, komme ich schon nach kurzer Distanz ins Japsen. Niemand hat mir je die richtige Technik beigebracht, und als dann jemand versuchte, just dieses zu tun, hatte ich keine Lust mehr, noch was zu lernen. Ich schätze einfach die Chance, noch Opfer eines Schiffsunglücks zu werden, extrem gering ein.

Wasser ist nicht so meins. Ich will auch keine Kreuzfahrt machen. Urlaub in schwimmenden Hochhäusern ist auch nicht so meins. Aber das ist ein anderes Thema. Ich habe auf jeden Fall kein gutes Verhältnis zu Wasser mit meinem Körper drin. Das war in den 60er Jahren noch ganz anders. Da war ich zwei, dreimal die Woche im Kettwiger. Nicht wegen des Schwimmens, sondern wegen der Kumpels, die auch da waren. Wir tobten herum, sprangen vom Beckenrand und bekamen es nicht nur einmal mit dem Bademeister zu tun. Ich weiß noch, dass ich stolz mein Freischwimmer-Stoffabzeichen trug, das meine Mutter auf meine Badehose genäht hatte. Ich — ein Freischwimmer. Da habt ihr es.

Das Kettwiger war ein Freilauf-Paradies in jenen grauen Sechzigern, die so oft geprägt waren von Verboten. Beatles hören durften wir nicht, und lange Haare waren auch verboten. Stattdessen liefen wir in speckigen Lederkurzhosen herum, weil die so praktisch waren und nur sehr langsam verschlissen. Der Reiz des Kettwiger Bades schwand, als wir das Wellenbad an der Grünstraße für uns entdeckten. Ich habe noch heute die sonore Stimme im Ohr, die regelmäßig aus dem Automaten erklang. „In fünf Minuten beginnt der Wellenbadbetrieb“, sagte sie, und dann nach fünf Minuten rollten die Wellen heran. Dann warfen wir uns in die Gischt und hatten Spaß wie Bolle.

Einige meiner Kumpels, die schon etwas älter waren und offensichtlich pubertär bedingte Hormonströme schwer steuern konnten, setzten gar zu höchst dubiosem Tun an. Sie postierten sich kurz vor Beginn des Wellenbetriebes vor attraktiven Frauen und ließen sich dann von den Wellen just auf diese zu treiben. Sie hofften sehr offensichtlich auf Berührungen der unzüchtigen Art, die sie stets mit der unbändigen Kraft der Wellen zu entschuldigen trachteten. Kann man ja nichts machen, wenn einen der Strom davonträgt, meinten sie und setzten dann immer ihr unschuldigstes Knabenlächeln auf. Einer hat trotzdem mal eine gelangt bekommen von einer sich belästigt fühlenden Frau.

Auch das Rheinstadion besuchte ich im Sommer häufig. Ich mochte das, auf den riesigen Stufen zu sitzen und dem quirligen Betrieb der Menschen zuzusehen. Einmal bin ich sogar vom Siebenmeterbrett gesprungen. Meine Güte tat das weh, als ich unglücklich auf das Wasser platschte. Manchmal reichte das Taschengeld auch für ein Eis. Dann war Festtag. Aber eigentlich war immer Festtag. Wir saßen da einfach rum, schauten in die Sonne und ließen die Stunden nichtsnutzig vergehen. Was für ein Luxus, dieses Gefühl, dass Zeit nicht zählt, dass selbst die Anordnung der Eltern, zu einer bestimmten Stunde daheim zu sein, allenfalls als Empfehlung durchging.

Uns konnte nichts anhaben. Wir waren im Rheinstadion die Sonnenkönige auf den hohen Stufen. Wir cremten uns nicht ein, und den Sonnenbrand trugen wir wie eine Auszeichnung. Heute gibt es keine meiner alten Schwimmstätten mehr in der ursprünglichen Form. Es gibt den Düsselstrand an der Kettwiger Straße, das Rheinbad in Stockum, aber da war ich noch nie. Wenn ich die Grünstraße passiere, höre ich jedes Mal noch die Automatenstimme. „In fünf Minuten beginnt der Wellenbadbetrieb.“ Dann blicke ich auf das, was jetzt da ist und trauere einen Moment den unbeschwerten Stunden nach.

Mein Freischwimmer-Zeugnis werde ich demnächst vernichten. Ich muss das wohl tun, weil mich immer noch das schlechte Gewissen plagt, ein quasi amtliches Dokument erschlichen zu haben. So etwas tut man nicht. Außerdem blitzt jedes Mal, wenn ich auf die Seite mit dem Freischwimmer-Testat schaue, die andere, die leere Seite auf. Dort steht in Fettschrift: Fahrtenschwimmer-Zeugnis. Für das müsste ich 30 Minuten schwimmen und einen Sprung aus drei Meter Höhe absolvieren. Wer braucht denn sowas?