Wenn Apocalypse Now und Abba aufeinandertreffen
Die Poeten Marcel Beyer und Nico Bleutge reflektieren über Politik und Zeitgeschichte.
Mit Marcel Beyer und Nico Bleutge trafen zwei der profiliertesten Gegenwartsliteraten zu einer „poetischen Begegnung“ im „Onomato Künstlerverein“ aufeinander. Im rappelvollen Ladenlokal an der Birkenstraße 97 las Beyer aus seinem Gedichtband „Graphit“, Bleutge aus seinem Gedichtzyklus „nachts leuchten die schiffe“. Eine gute Stunde lang bestätigten beide nicht nur ihren Ruf als virtuose Dichter, sondern erwiesen sich auch als ausgezeichnete Vorträger ihrer Verse. Sie demonstrierten, dass gute Gedichte zunächst einmal Musik sind. Erst nach und nach erschließen sich die rätselhaften Welten hinter den Versen. Im anschließenden Gespräch mit Frauke Tomczak, der Kuratorin der Lyrikreihe, lieferten Beyer und Bleutge Einblicke in ihre poetische Arbeit. Zu erkennen waren vor allem zwei dichterische Auffassungen, die beide Autoren miteinander teilen, aber unterschiedlich umsetzen.
Marcel Beyer betrachtet Gedichte als kleine Theaterstücke. Ihn reizen Räume, wo der ganz normale Alltag stattfindet, etwa Supermärkte. So im Gedicht „California Girls“, wo der weltberühmte Pop-Hit der „Beach Boys“ aus dem Jahr 1965 als Soundkulisse im Konsumtempel dient, sehr zum Verdruss des lyrischen Subjekts: „Du Totenreich, du blöde / Shopping Mall, wo alles Tag / und Nacht bedunstet / wird, alles mit California Girls beschallt“.
Auch Bleutge denkt in seinen Gedichten szenisch. Nur sind seine Bühnen menschliche Erinnerungsräume: „Assoziationen, Erinnerungen, Gedankenreste, Traummomente überlagern sich und bilden verschiedene Schichten. Und mich interessiert, wie dieser Erinnerungsspeicher arbeitet“, erklärt Bleutge. Als das lyrische Ich etwa Container-Schiffe auf dem Eismeer vorbeiziehen sieht, erinnert es sich daran, wie es als Kind vom großelterlichen Balkon in Mainz die Frachtschiffe beobachtet, die den Rhein entlangschippern: „die erinnerungen, aus einem sommer irgendwann / stücke von dunst auf dem grund der kindheit / von einem wasser irgendwann, ein paar kinder / schneiden einen apfel auf dem balkon, reichen mir die stücke / während ich auf den fluß blicke und die frachter höre, ihr klopfen.“
Marcel Beyer spielt in seinen Gedichten direkt auf politische Geschehnisse an. Stark beeinflusst hat ihn der politische Autor Volker Braun, der in vielen seiner Gedichte direkt auf die DDR-Geschichte verwies. In „An die Vermummten“ hat Beyer Georg Trakls Gedicht „An die Verstummten“ Vers für Vers überschrieben und in ein poetisches Statement zur irrsinnigen Terroristenjagd der USA verwandelt, die nach dem 11. September einsetzte und in der Erschießung des „Terrorfürsten“ Osama Bin Ladens in Pakistan am 2. Mai 2011 gipfelte: „So de
ich alles / an schwarzem Material überlagert: Asche / von Türmen, nordpakistanische Nacht und auch / dieser alte, auf hoher See bestattete Zottelbart“.
Nico Bleutge hingegen setzt in seinen Versen nur dezente politische Signale. In einem Stück etwa tauchen aktuelle Fluchtrouten auf. Bleutge hat herausgefunden, dass sich dahinter einst Handelsrouten verbargen. Seine Recherchefunde verrät er aber nicht, sondern deutet sie nur an, indem er etwa bestimmte Städte nennt. Auf diese Weise könne ein Gedicht auch politisch sein, so Bleutge: „an den grenzen entlang, çukurca öffnet sich / und cizre, gao öffnet sich, sikasso, tamanrasset, ghat, wo die jerboas / laufen und die tiefenmulden, der östliche landweg, vom grünen / ladogasee bis zum weißen meer, nah am uranerz, den herden /von salz und gischt, die entstehen“.