Interview Schulpsychologin erklärt, wie Kinder aus der Mobbingfalle herauskommen

Düsseldorf · Ute Stratmann vom Zentrum für Schulpsychologie erklärt, wie Mobbing entsteht, wie Eltern erkennen, dass ihr Kind gemobbt wird und wie sie helfen können.

Ute Stratmann vom Zentrum für Schulpsychologie

Foto: Ute Stratmann

Frau Stratmann, woran erkennen Eltern, dass ihr Kind in der Schule gemobbt wird?

Ute Stratmann: Es gibt verschiedene Signale die Kinder aussenden und jedes Kind reagiert anders: Das Kind verbringt beispielsweise viel mehr Zeit zu Hause als sonst, es klagt morgens über Rücken- oder Bauchschmerzen und möchte nicht zur Schule gehen. Noch eindeutiger sind die Signale, wenn das Kind verweint nach Hause kommt oder mit beschädigten Klamotten oder Schulutensilien. Eltern sollten aufmerksam werden, wenn sich Kinder in ihrem Verhalten verändern. Wenn sie auf einmal schlecht schlafen oder essen, sich zurückziehen oder schlecht konzentrieren können. Auch ein Leistungsabfall in der Schule kann ein Anzeichen sein.

Wenn Eltern den Eindruck haben, dass etwas in der Schule nicht stimmt, wie schaffen sie es, dass sich das Kind ihnen anvertraut?

Stratmann: Wenn Kinder gemobbt werden, suchen sie oft die Schuld bei sich und befürchten, dass sich ihre Situation durch das Eingreifen von Erwachsenen verschlimmert. Oder sie denken: Meine Eltern können mir ohnehin nicht helfen, weil sie keinen Einfluss auf den Betrieb in der Schule haben. Eltern müssen deshalb immer wieder als Gesprächspartner zu Verfügung stehen. Sie sollten immer wieder nachfragen und das Kind ermuntern, von seinem Schulalltag zu erzählen. Oft ist es so, dass sich das Kind anvertraut, wenn es gerade eine schöne Situation mit dem Elternteil erlebt und sich in dem Moment stark und geborgen fühlt. Falls Eltern aber nicht zum Kind durchdringen, sollten auch andere Vertrauenspersonen hinzugezogen werden, Paten oder Großeltern zum Beispiel.

Das Kind glaubt oft, Eltern können ihm nicht helfen. Aber was können sie denn konkret tun?

Stratmann: Der einzige Weg führt über den Kontakt zu Lehrern oder Schulleitung. Auch wenn die Kinder das in dem Moment nicht wollen, weil sie eine Verschlimmerung der Situation befürchten. Der Weg aus der Mobbing-Situation führt unweigerlich über die Lehrern. Sie positionieren sich für ein positives Werte- und Normensystem in der Klasse, setzen sich für Regeln und deren Einhaltung im Klassenraum ein, fördern Selbstverantwortung von Kindern und Vereinbarungen zum respektvollen Umgang. Sie sorgen dafür, dass sich alle daran halten und Mobbing nicht geduldet wird. Das muss ich meinem Kind auch genau so erklären: Dass ich mich an die Lehrer wenden muss, weil sie die „Chefs“ im Klassenraum sind.

Wie kann Mobbing im Klassenraum überhaupt erst entstehen?

Stratmann: Gemobbt wird völlig willkürlich. Es geht nicht um die Haarfarbe oder die Klamotten eines Kindes, die Länge seiner Haare oder sonst etwas. Es ist auch wichtig, dem gemobbten Kind das klar zu machen: Es geht nicht um dich, sondern darum, irgendjemanden fertig zu machen. Mobbing ist ein systemisches Problem und muss systemisch gelöst werden – nämlich über die Lehrer oder die Schulleitung. Ein Kind, das mobbt, versucht, sein eigenes, minimales Selbstwertgefühl zu stabilisieren, indem es ein anderes Kind erniedrigt. Erst wird ausgetestet: Welches Kind in der Klasse wehrt sich nicht oder hat zu wenig Unterstützung von anderen Kindern oder den Lehrern. Erfährt das Kind dann bei seinen ersten Erniedrigungen keinen Gegenwind oder sogar Bestätigung – von anderen Kindern, die zusehen und einzelnen, die sogar mitmachen – dann stabilisiert sich die Situation und das gemobbte Kind kommt nicht ohne Hilfe wieder aus dieser Opfer-Rolle heraus. Dann braucht es die Lehrerin, um wieder ein positives Wertesystem zu etablieren.

Eltern von gemobbten Kindern wollen das vielleicht direkt mit dem anderen Kind oder dessen Eltern klären. Aber ist das sinnvoll?

Stratmann: Auf gar keinen Fall sollten Eltern auf dem Schulhof auftauchen und sich das Kind vorknöpfen. Auch sollten sie keinen Kontakt zu dessen Eltern aufnehmen. Genauso kontraproduktiv ist es, die Lehrer aufzufordern, das andere Kind zu bestrafen. Ich würde eher an die gemeinsame Erziehungsverantwortung appellieren: Ich möchte, dass mein Kind angstfrei zur Schule geht und dass es sich hier wohl fühlt. Und ich möchte, dass Sie mich darin unterstützen. Ein Mobbing-Tagebuch des Kindes hilft an dieser Stelle, den Lehrern nachvollziehbar darzustellen, was das Kind durchleidet. Mobbing darf nicht heruntergespielt oder bagatellisiert werden.

Und wenn Eltern den Eindruck haben, bei den Lehrern oder der Schulleitung nicht weiterzukommen? Was sind die nächsten Schritte?

Stratmann: Ich empfehle dann, einen Termin im Zentrum für Schulpsychologie zu machen. Ein Schulpsychologe kann die Schule auch  besuchen und sich die Situation im Klassenraum ansehen. Vielleicht stellt sich dann heraus, dass für das Kind in diesem Fall ein Klassen- oder sogar Schulwechsel günstiger ist. Aber die Schule zu wechseln, sollte wirklich der allerletzte Schritt sein. Denn: Wie fühlt sich das Kind dabei, wenn es als Opfer die Schule verlassen, wieder neu anfangen und neue Freunde finden muss. In jedem Fall müssen Schulpsychologe, Schulsozialarbeiterin, Lehrerin und Schulleitung eine Lösung finden, wie das Kind schnell aus der Mobbingfalle herauskommt. Denn je länger es Mobbing ausgesetzt ist, desto schwerwiegender sind die psychischen Schäden.