Corona Beobachtungen mit Mindestabstand
Krefeld · Kassiererinnen tragen Einweghandschuhe, Kellnerinnen langweilen sich und alle reden übers Toilettenpapier – das Coronavirus prägt auch das öffentliche Leben in Krefelds Innenstadt.
Was wäre, wenn jemand von all dem nichts wüsste? Wenn einer, nur mal angenommen, drei Monate geschlafen hätte und dann am Krefelder Hauptbahnhof seinen Spaziergang durch die Innenstadt beginnen würde – ab welchem Punkt würde ihm auffallen, dass etwas nicht stimmt? Die Züge fahren, die Autos fahren, die Straßenbahnen fahren, es sind auch Leute zu Fuß unterwegs. Nicht so viele wie sonst, aber eventuell ist heute Sonntag. Am Cinemaxx hängt ein Schild, darauf ist zu lesen: „Es tut uns Leid, unser Kino ist zurzeit geschlossen“. Kommt vor, vielleicht wird ja umgebaut.
Der Spaziergänger würde über die Hochstraße gehen und merken, es ist ja doch nicht Sonntag, die Geschäfte haben geöffnet. Viel los ist allerdings nicht. Im Supermarkt fiele ihm auf, dass alles zu haben ist, nur kein Toilettenpapier, kein Mehl und bloß Dinkelnudeln.
Vielleicht würde er dann den Zettel sehen, der bei Igor Trubnjakob, Facharzt für Allgemeinmedizin, an der Tür hängt. Darauf ist eine rote Hand abgebildet, unter der steht: „Bevor Sie eintreten, haben Sie Anzeichen einer Erkältung? Atemnot, Husten, Fieber, Halsschmerzen und waren Sie in den letzten 2 Wochen in einem Gebiet, in dem sich das neue Coronavirus ausgebreitet hat?“ Dann würde auch dem Uninformierten allmählich dämmern, dass irgendwas anders ist als sonst.
Wer aber weiß, dass das Coronavirus das öffentliche Leben immer mehr einschränkt, weil Schulen, Fußballplätze, Stadien, Museen, Konzerthallen, Kneipen nicht mehr öffnen dürfen – wenn der sich am Dienstagvormittag vom Bahnhof aus auf den Weg macht, sieht er gleich mehr. Auch wenn er überrascht sein wird, wie vieles noch seinen gewohnten Gang geht. Krefeld ist auch am Dienstag keine Stadt im Ausnahmezustand, man hat eher den Eindruck, sie wacht einfach nicht so richtig auf.
Am Bahnhof halten noch Züge und fahren wieder ab, nur steigen deutlich weniger Menschen ein und aus. Ein Güterzug fährt durch, geladen hat er Hunderte Autos, immerhin, VW hat gerade verkündet, die Produktion in Europa zu stoppen. In der Sparkasse am Ostwall bittet ein Schild, 1,50 Meter Abstand zu halten, „zu Ihrem Schutz und unserem“. Die Apotheken handhaben das mit dem Schutz unterschiedlich. Einige haben gar nichts unternommen, die Elefantenapotheke hingegen hat Plexiglasscheiben zwischen Mitarbeiter und Kunden gestellt, nicht mehr als zwei dürfen gleichzeitig in den Laden. In der Rosenapotheke soll man sich bitte vorher die Hände desinfizieren. Immerhin für diesen Zweck gibt es noch Desinfektionsmittel, erhältlich ist das sonst kaum noch.
Auch nicht in den Drogerien. Beim DM an der Friedrichstraße gibt es wie anderswo an diesem Tag auch kein Toilettenpapier mehr. Eine Kundin sagt, bei Kodi gebe es noch welches, das habe sie gestern gesehen. Ein Kassierer sagt zu einer Kundin, sie bekämen nur einmal pro Woche neue Ware. Auch in anderen Drogerien überall leere Regale, wo vorher noch Toilettenpapier lag. An einem Regal hängt ein Schild: „Liebe Kunden, die Warenversorgung von Toilettenpapier in Deutschland ist nicht grundlegend gefährdet. Im Sinne aller Kunden bitten wir Sie, auf eine unnötige Bevorratung zu verzichten.“ In einem Rossmann sagt eine Verkäuferin zum Kunden: vielleicht Mittwoch wieder. „Dann muss man Servietten nehmen“, sagt der Mann, er hat mehrere Packungen in der Hand. Kleines Drama an einer Kasse: Der Familienvater möchte drei Exemplare der desinfizierenden Flüssigseife. Die Kassiererin weist ihn darauf hin, dass nur zwei erlaubt sind. „Aber ich habe drei Kinder.“
Doch auch wenn es an einigen wenigen Produkten mangelt – die meisten Geschäfte in der Innenstadt haben geöffnet, zu den großen Ausnahmen gehört H&M. Es ist bloß deutlich weniger los als sonst, als wären die Bewohner einer Kleinstadt in die Großstadt gekippt worden. Bei „Heinemann“ langweilen sich die Kellnerinnen, im Kaufhof haben sie viel Zeit, neue Waren einzuräumen. Im Edeka fahren Mann und Frau im E-Rollstuhl durch die Gänge. Der Mann fragt: „Was ist denn mit kleinen Klößchen?“ Doch auch tröstlich, wenn die Leute noch andere Gedanken haben als: Hat der Mann, der gerade in meine Richtung gehustet hat, schon das Virus? Auf der Straße schlendern die Leute ein wenig wie an einem Sonntag. Sie sitzen auch beim Bäcker, im Eiscafé, nicht in Massen, aber schon gemeinsam an Tischen. Draußen sind 16 Grad, der Frühling kommt, das Gezwitscher der Vögel ist zu hören, wer will da zuhause sitzen?
Es sind die Details, die immer wieder daran erinnern, dass wir nicht in einer gewöhnlichen Zeit leben. Kassiererinnen mit Einweghandschuhen. Eine Supermarktverkäuferin, die ihren Sohn an der Hand führt. Die Geschäfte mit den Aushängen, auf denen um bargeldloses Zahlen gebeten wird. Der Polizeiwagen, der mehrfach durch die Fußgängerzone fährt. Das Service-Center von Wüstenrot müsste eigentlich geöffnet haben, es sitzt aber niemand darin, auch kein Mitarbeiter. Die Mediothek verkündet per Aushang, dass sie bis 19. April geschlossen ist, „Bleiben Sie gesund“. Bei Yomaro werden die Kunden gebeten darauf zu achten, dass sich nie mehr als zwei von ihnen im Geschäft aufhalten. Es ist aber sowieso niemand da. Vor St. Dionysius steht: „Die Kirche ist zum Gebet geöffnet! Eucharistische Anbetung von 9.30 Uhr bis 18.00 Uhr.“ Der DHL-Bote gibt das Paket durchs Fenster und sagt: „Brauch ich keine Unterschrift wegen Coronaviren“.
Und die Menschen reden über das Virus. An der Ecke Schwanenmarkt/Hochstraße spricht ein Paar mit einem Obdachlosen, die beiden sind mit dem Rad da. Sie sagt: „Da war eine Frau, die hat zehn Pakete Toilettenpapier gekauft.“ Dann berichtet sie von Autos mit Heinsberger Kennzeichen, die demoliert worden seien, weil da eben das Virus ausgebrochen sei. Der Mann gibt dem Obdachlosen drei Zigaretten, dann fahren sie weiter.
Doch während die Stadt an diesem Dienstag nicht so richtig aufwacht, ist es möglich, dass sie noch immer viel zu wach ist, um das Virus zu stoppen. „Man kann‘s auch übertreiben, wie so vieles übertrieben wird“, sagt die Frau im elektrischen Rollstuhl, bevor sie in die Bäckerei gegenüber vom Hansa Centrum fährt. Das ist eben die Frage, ob man es wirklich übertreiben kann. Wer überzeugt ist, dass man lieber zu viel als zu wenig tun sollte, der fühlt, wie schnell Kleinigkeiten Empörung auslösen.
Dann will man die Frau mit der Leopardenmustertasche schütteln, die sich jetzt noch im Einkaufszentrum „Schwanenmarkt“ die Nägel machen lässt. Oder die Rentnerin im „Super Cut“, die ihre Haare gerne etwas nach hinten frisiert hätte. „Am besten ziehen Sie mal die Jacke aus, dann besprechen wir das“, sagt die junge Frisörin. Oder das Paar, das sich bei den holländischen Pommes die Finger leckt. Früher war das höchstens ein bisschen ekelhaft, jetzt beinahe eine Provokation. Das Virus ist kein Terroranschlag, das sich von Trotzreaktionen beeinflussen lässt. Die größte Heldentat ist es, nicht das Haus zu verlassen. Aber wer will mit der alten Frau schimpfen, für die wir alle versuchen, möglichst nicht das Haus zu verlassen, wenn sie ihr Frühstück vor dem Café genießt? Der Rollator parkt gleich neben ihr.
Bei Kodi an der Hochstraße gibt es tatsächlich Toilettenpapier, noch ein paar Pakete. Ganz unauffällig liegen sie zwischen den anderen Waren, als wäre es nichts. Der Verkauf ist allerdings auf drei Pakete pro Person beschränkt, eine Frau kauft gleich drei. Doch auch wer nur eines erwirbt – man weiß ja nie, wann‘s wieder was gibt – der muss damit rechnen, später gefragt zu werden: Wo haben Sie das denn bekommen?