Mit angezogener Handbremse in der Corona-Krise Illusion eines „normalen Lebens“: A57-Raststätte Geismühle in Krefeld

Krefeld · Die Autobahnraststätte Geismühle West auf der A57 gehört zu den wenigen Orten in Krefeld, an denen das Leben noch normal zu laufen scheint. Doch lang hält diese Illusion nicht.

Jörg N. aus Schleswig-Holstein muss weiter – Papier nach Düren bringen.

Foto: ja/Andreas Endermann

Auf der Rampe zum Schnellrestaurant steht ein Packesel aus Metall, beinahe in Lebensgröße. So hat es schließlich angefangen: Dass jemand beschloss, sein Holz oder seine Steine nicht mehr selbst zu tragen und auf den Rücken eines Tieres legte. Aus den Tieren wurden Schiffe, Züge und Lkw, aus ein, zwei Säcken wurden Tonnen. Wer schon sonst nichts mitnimmt von einem Besuch auf der Autobahnraststätte Geismühle West, der nimmt hoffentlich mit, wie weit weg das mit den Eseln bereits ist.

Die Raststätte an der A57, Fahrtrichtung Köln, macht an einem Mittwochvormittag den Eindruck, als habe das, was überall als „Situation“ beschrieben wird, noch gar keine Spuren hinterlassen. Welcher öffentliche Ort in Krefeld kann das schon von sich behaupten? Im Hintergrund rauscht die Autobahn. Die Lkw parken dicht an dicht, viele Nummernschilder aus Rumänien und Polen. Wie schlafende Wale liegen sie da. Die Tankstelle hat geöffnet, auch wenn nicht viel los ist. So genannte Kultschilder lassen sich noch erwerben, es geht um Brüste, Bier und Hinterteile. Erhitzte Snacks werden angeboten, Currywurst, Bockwurst. Am Eingang zur Sanifair-Toilette wird die Brotzeit des Monats beworben: ein Landbrötchen mit Putenbrust, Frischkäse und Apfel-Chili-Chutney.

Draußen geht ein Mann über das Gelände. Er trägt kurze Hosen, eine gelbe Warnweste auf nackter, behaarter Haut, Baseballmütze. In der Hand hält er Müllzange und Eimer. Vor 30 Jahren kam er aus Kasachstan nach Deutschland, Profi-Imker war er, doch damit ließ sich in Deutschland kein Geld verdienen. Deshalb machte er alles mögliche, nun eben im fünften Jahr als Hausmeister auf der Raststätte, Vollzeit. Noch anderthalb Jahre bis zur Rente. Als Hausmeister hat er noch immer genug Arbeit, also läuft er weiter herum, sammelt den Müll, mäht den Rasen.

Auf dem Parkplatz vor dem Restaurant sitzt ein Mann in seinem Lieferwagen und liest Zeitung. Ohne Medien würde er von Corona nicht viel mitbekommen, sagt er. Die Auftragslage ist gut, sogar besser. Sein Unternehmen stellt Hygiene- und Reinigungsprodukte für Gebäude, Küchen und Waschstraßen her, auch Desinfektionsmittel. Sie beliefern nun zuerst Krankenhäuser, dann Stammkunden. Ein Großhändler bekommt erst mal nichts mehr, weil er 3000 Prozent auf die Desinfektionsmittel draufgeschlagen hat. Der Mann fährt mit seinem Lieferwagen von Kunde zu Kunde, davor und danach desinfiziert er sich die Hände. Er hat immer ein paar Flaschen dabei.

Es sind Leute mit einem Auftrag, die kurz an der Raststätte rausfahren. Wer hier ist, der ist hier nicht zum Spaß, weil er zu einem Fußballspiel fährt oder in die Ferien oder einfach in die Stadt zum Shoppen. Wer hier ist, der hat etwas zu tun, ist Lkw-Fahrer, Handwerker, Außendienstler. Wer hier ist, der hat eine Arbeit, die entweder systemrelevant ist oder zumindest die Kontaktbeschränkungen nicht unterläuft. Wer hier ist, macht Pause und hängt nicht herum.

Doch auch die Raststätte ist keine Insel, und damit ist nicht das Schild gemeint, das am Parkplatz vor der Afrikanischen Schweinepest warnt und deshalb dazu auffordert, die Speisereste nur in verschlossene Müllbehälter zu werfen. Corona hat sich bis in die Details geschlichen. 1,32 Euro kostet der Liter Super E10. An einer Autobahntankstelle. In den Osterferien. Im Shop ist ein Zettel an den gelben Aufsteller geklebt, der sonst vor gewischten Böden warnt. „Bitte halten Sie einen Abstand von 1,5 Metern“. Es steigen keine Familien aus, es halten sowieso wenige Pkw. Der Spielplatz ist nicht mal mit einem Sperrhinweis versehen, als wäre es völlig absurd, dass überhaupt ein Kind dorthin kommt.

In der Autobahnkapelle gegenüber der Geismühle liegt ein Notizbuch für die Gedanken, die einer so hat in der Autobahnkapelle. Ein Eintrag vom 5. April: „Ohne Angst wegen des Korona-Virus habe ich mit Iwona diese heilige Stätte besucht und für die ganze Menschheit ein Gebet gesprochen. Friedrich + Iwona erheben die Hände zum Dank.“

Vor dem Raststättenrestaurant wird ein „Specktakel!“ in Aussicht gestellt, ein Knusperschnitzel für 11,99 Euro mit Champignons, Spiegelei und Schmorzwiebeln. Auf einem gestellten Foto ist eine Familie zu sehen, Mutter, Vater, zwei Kinder, aber die Gaststätte hat seit Mitte März geschlossen, auch der Burger King daneben. Ausgerechnet ein Burger King an der Autobahn hat keinen Drive-In. Trotzdem kommen noch immer Menschen in freudiger Erwartung auf einen Burger und machen Sekunden später kehrt.

Doch für die wichtigste Entdeckung sind ein paar Stunden nötig. Dann erst fällt auf, dass die Wale noch immer schlafen. Keiner der Lkw aus Rumänien ist weitergefahren. Dass sie alle Ruhezeit haben, erscheint unwahrscheinlich. Warten die Fahrer in Wirklichkeit auf neue Aufträge? Einige von ihnen lassen sich kurz blicken, mit Schlappen laufen sie über den Parkplatz, ein Handy am Ohr. Die Kontaktaufnahme misslingt, schon der Sprachbarriere wegen. Do you speak English? No. Can we take a picture? No. Der Mann kocht gerade auf einem Gaskocher eine Suppe vor dem Fahrerhaus. Ein Lkw-Fahrer aus Norddeutschland vermutet, dass einige von ihnen hier schon seit Tagen stehen, sonst wären die um die Uhrzeit gar nicht hier.

Ein Anruf bei Michael Wahl soll Aufklärung schaffen. Er ist Berater im Projekt „Faire Mobilität“ des Deutschen Gewerkschaftbundes, das faire Arbeitsbedingungen für Beschäftigte aus Mittel- und Osteuropa in Deutschland schaffen will. Zwar kann Wahl nichts konkret über die Raststätte Geismühle sagen, aber über die Situation von Lkw-Fahrern aus Osteuropa in Deutschland allgemein.

Schon vorher war ihre Situation schlecht, sagt er. Viele bekommen bloß den Mindestlohn ihres Heimatlandes, vielleicht 500 Euro im Monat. Dabei müssten sie den deutschen bekommen, wenn sie in Deutschland fahren. Wenn sie hier fahren, bekommen sie stattdessen Spesen, die einen wichtigen Teil des Einkommens ausmachen. Oft bleiben sie wochenlang in Deutschland, bevor sie in Minibussen wieder nach Hause gefahren werden. Die Lkw parken derweil in Deutschland. Corona hat die Situation laut Wahl noch einmal verschärft. Viele Aufträge sind weggefallen, zum Beispiel in der Autoindustrie. Kurzfristige Aufträge, zum Beispiel für die Lebensmittelversorgung, können das nur bedingt ausgleichen. Tatsächlich warten also viele Fahrer gerade tagelang auf Aufträge, nicht in Hotels, sondern in ihrem Fahrzeug. Wenn sie Pech haben, sind sogar die Toiletten wegen Corona gesperrt. Das Kochen vorm Führerhaus ist keine Autobahnromantik, sondern Notwendigkeit.

Glück und Unglück liegen auf der Raststätte nah beieinander. Während die einen vermutlich schon lange auf den nächsten Auftrag warten, gibt es auch jene, die noch zum Vergnügen unterwegs sind. Da ist Rainer, 59, der schon morgens in seinem Lederoverall vor dem Packesel aus Metall sitzt. Rainer fährt seit 42 Jahren Motorrad und wartet auf einen Freund. Zusammen wollen sie in den Westerwald fahren. Eigentlich wollte er über Ostern vier Tage durch die Eifel fahren. Eigentlich wollen sie im September eine Tour nach Albanien machen. Eigentlich. Über Ostern war er nun zuhause, hat seine Enkel nicht gesehen, obwohl alle in der Nähe wohnen.

Vor dem geschlossenen Restaurant sitzt am Vormittag ein Rentner und lässt sich von der Sonne anleuchten, während er eine Zigarette raucht. Der 78-jährige Krefelder will zu seiner Freundin nach Neuss fahren. Er trägt ein Hörgerät. Der Stimme ist anzuhören, dass er gerade nicht seine erste Zigarette raucht. Er ist seit 36 Jahren Witwer, seine Freundin hat er vor einigen Jahren kennengelernt, „in einem Tanzlokal“.

Er trifft sonst niemanden in diesen Tagen, um 12 Uhr sind sie bei ihr Zuhause verabredet. Deshalb ist er noch mal auf die Raststätte gefahren. „Ich will nicht zu früh auf der Matte stehen“, erklärt er.