Tragende Rolle bei Enteignungen Die Rolle des Finanzamts in der NS-Zeit
Cracau · Die nationalsozialistische Enteignungspolitik agierte vollkommen. Durch Gesetze und Steuern waren davon nicht nur die Bankguthaben der Juden betroffen, sondern alle Arten von Besitz: Der Firmenwagen, das Geschäftshaus, Wertpapiere, Familienschmuck und Hausrat, wobei letzterer oftmals schon versteigert wurde, während die Besitzer noch im Haus wohnten.
„Es ging so weit, dass die Juden mit den sprichwörtlichen zehn Reichsmark in der Tasche das Land verlassen konnten“, berichtete Historikerin Claudia Flümann, die Vorstandsvorsitzende des Vereins Villa Merländer, der NS-Dokumentationsstelle, in einem lebendigen und lebensnahen Vortrag, der gemeinsam mit dem Werkhaus am Donnerstag unter der Überschrift „Unter leerem Himmel“ stattfand. Das Werkhaus erforscht unter diesem Titel in einem mehrteiligen Projekt, wie empfindlich demokratische Strukturen sind. „Es wird der Frage nachgegangen, wie schnell sich Rechtsempfinden und Mitmenschlichkeit verändern können und auf welchen institutionellen Ebenen die Aneignung von jüdischem Eigentum möglich wurde“, sagte Werkhaus-Vorständin Anja Jansen.
Mehr als 20 Besucher trafen sich an einem für diesen Vortrag denkwürdigem Ort, auf den Treppenstufen des Finanzamtes an der Grenzstraße. Denn diese Aneignung der Werte sei unter Mitwirkung derselben Beamten und Mitarbeiter durchgeführt worden, die man schon immer kannte und die man für rechtschaffen gehalten habe, berichtete die Historikerin.
Flümann: „Finanzamt oder Geldinstitute sind nicht die ersten Orte, die einem in Verbindung mit dem Nationalsozialismus in den Sinn kommen.“ Im Unterschied zur Gestapo seien sie eben keine NS-Organisationen, sondern traditionelle Verwaltungsorgane. „Sie waren schon vor den Nazis da und sie sind es heute noch.“
Zwar sei die Vertreibung der Juden aus dem Deutschen Reich ein wesentliches Ziel der nationalsozialistischen „Bewegung“ vor 1933, doch wollte „der chronisch ,klamme’ NS-Staat mit diesen Maßnahmen verhindern, dass mit den verhassten Juden auch deren Vermögen über die Grenzen gingen.“ Eine Vermögensmitnahme ins Ausland, oft Voraussetzung für Visum, Existenzgründung, Lebensunterhalt, gelang deshalb nicht in nennenswertem Ausmaß. Es kam zu 95-prozentigen Abschöpfungen. Auch vermögende Krefelder hatten am Ende kaum noch etwas in der Tasche.“
Flümann weiter: „Es gehörte zur NS-Propaganda, die Parolen zu verbreiten, dass bei Juden märchenhafte Beträge zu holen waren. Im April 1938 wurden deshalb alle Juden aufgefordert, ihr Vermögen dem Finanzamt mitzuteilen. Nach dem Novemberpogrom sollte eine Milliarde in den Reichshaushalt gespült werden, als Sühne für dieses Geschehnis, das sie nicht zu verantworten hatten.“
Rundgang bringt neue Aspekte zum Nationalsozialismus ans Licht
Im weiteren Verlauf des Abends gingen die Teilnehmer die Ecke herum an die Uerdinger Straße. „Direkt neben dem Finanzamt befand sich auch eine Geschäftsstelle der Stadtsparkasse, die auf einem Grundstück aus ehemals jüdischem Besitz errichtet wurde“, erklärte Flümann.
Gisela Sache-Diemer war unter den Besuchern der Veranstaltung: „Ich habe schon viel über die Naziherrschaft in Krefeld gelesen. Ich interessiere mich für das Thema. Obwohl ich schon einiges weiß, habe ich nun erfahren, wie das Finanzamt involviert war.“
Für Heidrun von der Stück war das Thema des Nationalsozialismus schon seit dem zehnten Lebensjahr interessant. „Ich habe die Mutter oft gefragt: ,Was habt Ihr gemacht?’.“