Menschen in Krefeld Erinnerungen an eine schwere Zeit

Krefeld · Die Krefelderin Marion Koppel floh vor den Nazis nach England. Die NS-Dokumentationsstelle dokumentiert ihre Geschichte.

 Marion Koppel hat ihre Kindheit und Jugend in Krefeld verbracht. Zwei Monate vor Kriegsausbruch gelang ihrer Familie die Ausreise nach England.

Marion Koppel hat ihre Kindheit und Jugend in Krefeld verbracht. Zwei Monate vor Kriegsausbruch gelang ihrer Familie die Ausreise nach England.

Foto: Stadt Krefeld

Der englische Ort Slough ist dafür bekannt, dass der in Hannover geborene Astronom Wilhelm Herschel (1738-1822) und seine Schwester und Astronomin Caroline (1750-1848) dort die erste Karte des Universums mithilfe eines Teleskops erstellt haben. Die beschauliche Kleinstadt mit rund 119 000 Einwohnern liegt westlich von London. Jenseits der Themse befindet sich Windsor mit seinem berühmten königlichen Schloss. Slough ist seit 1938 das Zuhause von Marion Koppel. Zwei Monate vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs konnten sie und ihre Eltern noch aus Krefeld nach Großbritannien fliehen. Die Koppels sind eine jüdische Familie.

Erinnerungen und Eindrücke sollen dokumentiert werden

„Treffen mit Zeitzeugen und Überlebenden der NS-Verfolgung sind immer ein ganz besonderer Moment für Menschen in der Gedenkstättenarbeit. Die Möglichkeiten zu solchen Begegnungen werden immer seltener“, sagt Sandra Franz, die Leiterin der NS-Dokumentationsstelle. Am Bahnhof von Slough erwartet die 99-jährige Marion Koppel auf ihren Gast aus Krefeld. Sandra Franz möchte ihre Erinnerungen und Eindrücke dokumentieren. Die wenigen lebenden Zeitzeugen haben den Nationalsozialismus meist als Kinder erlebt. Als Marion Koppel mit ihren Eltern ausreisen konnte, war sie mit 15 Jahren schon eine Jugendliche. Und ihre Perspektive auf die damaligen Ereignisse hat so eine besondere Bedeutung für die NS-Forschung in Krefeld.

Mit ihren Eltern Hugo und Hilde Koppel wohnt Marion an der Wilhelmshofallee 64, später an der Richard-Wagner-Straße 57, zuletzt an der Dreikönigenstraße 28. Sie wurde 1924 geboren und ist das einzige Kind der kleinen Familie. Marion Koppel wurde 1934 auf dem Lyzeum für Mädchen (heute Ricarda-Huch-Gymnasium) eingeschult. „Ohne Probleme“, betont sie. Sie erinnere sich nicht daran, dass sie jemals in der Schule benachteiligt wurde, weil sie jüdisch war. Noch 1936 sei sie von einem Lehrer dafür ausgewählt worden, ein Gedicht bei einer Schulfeier öffentlich vorzutragen.

Schwimmbadverbot
trifft die Jugendliche sehr

Wirklich beeinträchtigt habe sie die anti-jüdischen Gesetze erst ab 1938, besonders das Verbot, das Schwimmbad an der Neusser Straße zu besuchen. „Das hat mich sehr getroffen“, erinnert sich Koppel. Und ein weiteres Erlebnis wirkt bis heute emotional nach: „Ungefähr zur selben Zeit teilte mir meine beste nicht-jüdische Freundin aus meiner Klasse mit, dass sie keinen Umgang mehr mit mir haben könne, weil ihr Vater eine hohe Position in der Stahlproduktion bekleidet. Das hat mich natürlich sehr getroffen. Aber ich nahm es ruhig auf.“

Nachdem ihr Vater im Zuge des Novemberpogroms 1938 verhaftet und in Dachau inhaftiert wurde, begann ihre Mutter Hilde Koppel verzweifelt nach Emigrationsoptionen zu suchen. Hugo Koppel betrieb eine Firma, die Öle und Fette importierte. Weil seine Firma „arisiert“ werden sollte, wurde ihr Mann vier Wochen später wieder entlassen. In dieser Zeit hatte sie mithilfe eines belgischen Geschäftspartners einen Weg aus Deutschland gefunden – eine Position bei einer Margarine-Firma in Slough. Zwei Monate vor Kriegsausbruch konnten Vater, Mutter und Tochter emigrieren. Selbst Foxterrier Pit durfte nach einigen administrativen Hürden mitkommen.

In dem Gespräch betont Koppel immer wieder, dass ihr eigentlich nichts wirklich Schlimmes passiert sei. „Zumindest nicht im Verhältnis zu anderen Schicksalen“, sagt die 99-Jährige. In den vergangenen Jahren besuchte sie wiederholt ihre Heimatstadt am Niederrhein, unter anderem für die Verlegung eines Stolpersteins für ihre Großmutter Sara an der Uerdinger Straße 109. Sie wurde mit 83 Jahren in Treblinka ermordet. „Andere Familienmitglieder konnten den Schritt zurück in die alte Heimat nach dem Erlebten nicht mehr über sich bringen. Meine Mutter ist nie wieder nach Krefeld gereist“, berichtet Koppel. Bei Telefonaten, mit E-Mails und bei Besuchen tauscht sie sich rege mit Nachfahren anderer Krefelder Überlebender aus. „Erst vor wenigen Wochen kam mich meine Cousine Vera Goldstein besuchen. Sie ist ebenfalls eine Krefelder Überlebende, die mit ihrer Familie in die Niederlande floh“, so Koppel.

Auch im hohen Alter
noch sehr mobil

Das Gespräch hat Sandra Franz für die Dokumentationsstelle aufgenommen. Zudem gab ihr Marion Koppel einige Seiten mit Erinnerungen mit. Nach Krefeld werde sie wohl wegen ihres hohen Alters nicht mehr kommen. In Slough ist die passionierte Autofahrerin aber immer noch mit dem eigenen Wagen unterwegs. Ihr Kalender ist gespickt mit vielen Terminen. „Niemand, der Marion Koppel trifft, käme auf die Idee, dass diese zierliche, robuste Dame fast ein ganzes Jahrhundert alt ist“, sagt Franz. Und beim Abschied sagt die 99-Jährige: „Bei Deinem nächsten Aufenthalt in England kommst Du mich unbedingt wieder besuchen.“ Red