Jugendclub begeistert mit „Frühlings Erwachen“

Fünf Mädchen und ein Junge schaffen eine eindrucksvolle Inszenierung zu gesellschaftlichen Tabus.

Foto: Matthias Stutte

Melchior, gespielt von Arne Hommes, sitzt sichtlich bedrückt auf einer Schaukel, während der Rektor seiner Schule ihn von einer erhöhten Position für den Selbstmord seines Freundes Moritz Stiefel verantwortlich macht. Er habe ihm eine Abhandlung über das „unflätige“ Konstrukt der Sexualität zukommen lassen. Gespielt wird der Rektor im Kollektiv von Marta Otten, Mascha Reichenheim, Erika Schelenberg, Nele Rembold und Isabel Schüten, die dynamisch zwischen ihren verschiedenen Rollen wechseln. Jede von ihnen trägt einen übergroßen Schnurrbart vor dem Gesicht, der an den klassischen Bart Kaiser Wilhelms erinnert, dessen Inthronisation drei Jahre vor der Erscheinung des Stückes „Frühlings Erwachen“ vollzogen wurde.

Ein Zufall ist dies keineswegs, denn Frank Wedekinds Werk aus dem Jahre 1891 thematisiert die Tabuisierung der menschlichen und insbesondere jugendlichen Sexualität und deren Obszönisierung auf Basis des wilhelminischen Wertemodells, die in besonderem Maße während der Pubertät zu inneren Konflikten führt. Am Samstag feierte die Inszenierung des Jugendclubs ihre Premiere in der Fabrik Heeder.

Im vergangenen Oktober begannen die Proben für Frühlings Erwachen im Jugendclub des Krefelder Theaters unter ungewöhnlichen Umständen, berichtet Maren Gambusch, die das Stück gemeinsam mit den Jugendlichen konzipierte und inszenierte. „Wir überlegen uns immer schon vorher, welches Stück wir aufführen wollen“, berichtet sie. Deswegen sei es besonders kompliziert gewesen, ein Stück mit zahlreichen Rollen und nur sechs Darstellenden aufzuführen, unter denen sich mit Arne Hommes nur ein Junge befindet. Ein anfängliches Problem, dass sich letztlich als die wohl größte Stärke des Stückes entpuppt.

Gemeinsam übernehmen die fünf Mädchen die Rolle des Moritz Stiefel, eines unaufgeklärten Jungen aus einem konservativen Elternhaus, den seine ersten sexuellen Regungen befremden und verängstigen. Im Zuge dessen sucht er Rat bei seinem Freund Melchior, der als Sohn einer liberalen Mutter sein höheres Maß an Wissen mit ihm teilt, indem er ihm ein Dokument mit Erklärungen und Zeichnungen aushändigt.

Von der Rolle des Moritz wechseln die Darstellerinnen rapide in die Rolle der Erwachsenen, die im Chor aus dem Off die einzelnen Charaktere bevormunden und kritisieren. Stellen die fünf Darstellerinnen Moritz dar, tragen sie alle eine einheitliche weiße Weste, die sich als Korsett der gesellschaftlichen Erwartungen an seine Person deuten lässt.

Die weibliche Hauptrolle Wendla teilen sie ebenfalls untereinander auf. Diese wird durch ein weißes Kleid gekennzeichnet. Nur in kurzen Abständen legen die Charaktere ihre Westen und die wilhelminische Sexualmoral ab, um einen anzüglichen Tanz zu inszenieren, in dessen Rahmen sie ihre sexuelle und individuelle Freiheit entfalten können.

Generell haben Maren Gambusch und ihre Darstellenden das Stück szenisch weiterentwickelt. Der stetige Wechsel der Rollen und die Untermalung des Stückes durch thematisch passende Lieder und Videos, die auf einer Leinwand im Hintergrund der Bühnenkulisse abgespielt werden, erinnern beinahe an typische Verfremdungseffekte des Brecht’schen Theaters.

Die Aufteilung des Moritz Stiefel auf fünf Darstellerinnen wirkt keineswegs notgedrungen, denn während des Stückes entsteht zunehmend das Gefühl, dass Moritz repräsentativ für eine ganze Generation stehe. Das Bühnenbild bleibt mit zwei Schaukeln relativ schlicht, auf zeitgenössische Elemente der wilhelminischen Epoche habe man absichtlich verzichtet. „Das Stück und das Thema sind trotz des historischen Hintergrundes zeitlos“, so Gambusch. Deswegen wollte man sich auf keine bestimmte Epoche festlegen.

Zwar habe man einige Szenen und Rollen gestrichen, Originaltext und Handlung wurden allerdings weitestgehend übernommen. Nachdem Wendla, deren Eltern sich ihrer Aufklärung strikt verweigern, mit Melchior schläft, ist sie zum Unmut ihrer Mutter schwanger. Dabei habe weder ein Storch das Kind gebracht noch habe sie geliebt, entgegnet Wendla ihrer Mutter satirisch. Die Mutter veranlasst schließlich eine Abtreibung, an deren Folgen Wendla stirbt. Unterdessen führt die gesellschaftliche Drucksituation unter der Moritz im Zuge schlechter Noten und mangelnder Selbstentfaltung leidet dazu, dass er sich das Leben nimmt. Wie schrecklich sei es, Mensch gewesen zu sein und das Menschlichste nicht erlebt zu haben, klagt er kurz zuvor.

Beide Vorfälle und die Schuldzuweisung des Rektors lösen bei Melchior immense Schuldgefühle aus. Im Rahmen der letzten Szene begibt er sich auf den Friedhof zu Moritz Grab, wo ihm durch eine unbekannte Gestalt klar wird, dass er keine Verfehlung begangen hat, sondern die Gesellschaft und ihre Ansprüche und Tabuisierungen Wendla und Moritz das Leben gekostet haben. Unter schallendem Applaus endet das Stück.