"Ödipus": Mittendrin statt nur dabei
Was geht uns Ödipus überhaupt an? Matthias Gehrt findet eine eindrucksvolle Antwort.
Krefeld. Ausgerechnet Ödipus. Die älteste der alten griechischen Kamellen, zumindest gefühlt. Mit Bildungsauftrag und besten Absichten deklamiert, von Staub bedeckt, fern wie Steinschlag am Boden eines Mondkraters. Was uns die Leiden des Königs, der wider Willen seinen Vater tötet und seine Mutter ehelicht, überhaupt noch angehen, die Frage muss erlaubt sein.
Matthias Gehrt, der in der Fabrik Heeder Sophokles’ „König Ödipus“ inszeniert, macht nicht den Fehler, die ungesagten Bedenken arrogant wegzuwischen. Als wolle er ein gemeinsames Forschungsprojekt anstoßen, setzt er die Zuschauer auf die Bühne, verteilt sie im hohen Innenraum der Heeder, der mit Kerzen ausgeleuchtet ist, die Wände blau bemalt.
Auf Hockern sitzend, blicken die Leute unsicher umher und sehen in den Gesichtern der anderen die gleiche Ahnung — dass dies ein besonderer Theaterabend wird. Einer, der mit dem Kulturkonsum im Sessel nichts zu tun hat, der Ereignis ist statt Event.
Mit einem markerschütternden Schrei eröffnet der Chor das grausame Spiel. Ronny Tomiska, Paul Steinbach und Helen Wendt entdecken frische Spielarten in der altbackenen Form, singen, raunen, brüllen, mal wütender Choral, mal flüsternder Kanon.
Was danach zwischen Ödipus, Kreon und Jokaste passiert, die quälend langsame Enthüllung eines unvermeidlichen Schicksals, spielt sich nicht oben im Scheinwerferlicht ab, sondern auf Augenhöhe, mitten im Publikum.
Die Darsteller sprechen die sperrigen Verse der Hölderlin-Übersetzung, ihre Gesichter sind mit dicken Schichten weißer Schminke überzogen — und doch: Darunter werden sie als Menschen erkennbar, in der vergeistigten Poesie tritt echte Verzweiflung hervor. Wenn die Maske in Fetzen zu Boden fällt, Puder durch die Lichtkegel staubt und die Anzüge befleckt, sind das unvermeidliche Nebenwirkungen, die zugleich eine perfekte Symbolik liefern. Hier bröselt die Patina weg, und darunter liegt eben doch ein großes Stück Weltliteratur, kraftvoll wie vor 2500 Jahren.
Die Versuchsanordnung, die Regisseur Gehrt mit Frank Hänig (Bühne/Kostüme) wagt, hat einen weiteren spektakulären Effekt: Man erlebt die Schauspieler nah wie nie, ihre Energie und Anspannung wird fühlbar. Das gilt für Bruno Winzen, der nach dem Jago den zweiten Bravourauftritt der Spielzeit hinlegt, für Joachim Henschke, der als Kreon immer wieder direkten Augenkontakt zum Publikum sucht, für die facettenreiche Eva Spott, die als Seher gespenstisch, als Jokaste voller Wärme daherkommt. Allein, warum die jüngsten Männer im Ensemble holprig überzogen Greise mimen müssen, bleibt Matthias Gehrts Geheimnis.
Im Interview hatte er als neuer Schauspieldirektor versprochen, „sinnliche Abende“ zu schaffen. Was mit „Othello“ und „Woyzeck“ nur phasenweise gelang. erfüllt er nun eindrucksvoll. Ausgerechnet mit Ödipus.
Weitere Termine: heute, 20 Uhr, sowie 12., 21., 26., 28. Juni und sechsmal im Juli. Karten unter Telefon 805 125.