Herr Grosse, wir leben in Zeiten von Corona, in denen wir uns viele Gedanken machen müssen. Deshalb würde ich gerne mit einer etwas ungewöhnlichen, sehr offenen Frage beginnen. Was geht Ihnen als Generalintendant des Theaters Krefeld Mönchengladbach, aber auch als Privatmann durch den Kopf? Was treibt Ihre Gedanken an?
Talk in Krefeld Generalintendant Michael Grosse: „Nerv der Besucher treffen“
Krefeld · Die Premiere der Interview-Reihe von WZ und Theater Krefeld/Mönchengladbach - mit Generalintendant Michael Grosse.
Michael Grosse: Herr der Lage zu bleiben. Das ist das, was mich seit Wochen, streng genommen seit dem 13. März – dem Freitag den Dreizehnten –, umtreibt. Es geht darum, die Übersicht zu behalten, diesen Input an Informationen zu verarbeiten und auf der anderen Seite hoffentlich auch die richtigen Entscheidungen zu treffen – das treibt mich um. Und bei einem Betrieb mit über 500 Mitarbeitern geht es im wahrsten Sinne des Wortes um Fürsorgepflicht.
Wie haben Sie die letzten Wochen wahrgenommen?
Grosse: Der Alltag als solcher hat sich nicht geändert. Sieben Tage in der Woche immer präsent sein müssen; das hat sich nicht geändert. Es ist deutlich stressiger geworden als der normale Alltag, aber ich hatte nicht das Gefühl, mich in einer Angstsituation oder mich gefährdenden Lage zu befinden. Weil ich das Gefühl hatte und immer noch habe, dass was da regierungsseitig – insbesondere in Person von Frau Merkel – kommuniziert und angeraten wurde, sehr sinnvoll, richtig und umsichtig war. Und das leitet mich. Man muss auf bestimmte Dinge verzichten. Ich hätte gerne meine Mutter zu ihrem 93. Geburtstag in ihrem Pflegeheim in Berlin besucht. Das ging nun nicht; das Schicksal teile ich wahrscheinlich mit vielen Millionen anderen Menschen. Das war eine Zäsur, die einen schon traurig macht. Aber das andere hat überwogen.
Theatermenschen, aber auch allgemein Künstler an sich, reagieren sehr oft unmittelbar auf das, was gerade passiert. Das konnten Sie jetzt in der Krise nur medial. Wenn es Krisen gibt, gerade wenn es schwierig wird, konnte Theater bis dato auch mal unbeschwerte Stunden bieten, die Menschen entführen. Das geht jetzt nicht. Was macht das mit Ihnen und Ihrem Bild vom Theater?
Grosse: Es ist eine immense Bewährungsprobe, wie für viele andere gesellschaftliche Bereiche auch. Ob man so eine Probe bestanden hat, werden wir nur deutlich später merken. Es geht um die Frage, wie wichtig sind wir für die Gesellschaft, wie „systemrelevant“ – in Anführungsstrichen – sind wir tatsächlich. Ich glaube schon, dass wir es sind. Die interaktive Kunst, das kollektive miteinander Agieren auf der Bühne und mit dem Publikum hat gefehlt. Deshalb ist das Internet oder der Stream kein Ersatz. Deshalb ist auch völlig falsch, jetzt zu argumentieren oder auch zu fordern, das Theater müsse mehr in diesem Medium tun und präsenter sein. Das ist nicht unsere Kernaufgabe. Das entkernt das Theater seines ursprünglichen Wesens. Insofern denkt man über den Stellenwert nach und macht sich Sorgen und Gedanken um die Zukunft.
Welche Fragen stellen sich Ihnen und Ihren Theaterkollegen da?
Grosse: Kommt man wieder gut an den Start? Kann man an das Erreichte der letzten zehn Jahre anknüpfen? Das sind in der Tat Fragen, die nicht nur mir, sondern auch vielen bei uns im Haus durch den Kopf gegangen sind und immer noch durch den Kopf gehen. Denn die Situation ist noch nicht vorbei. Ich denke, dass wir frühestens 2021/22 zu dem zurückkehren werden, was wir unter einem normalen Theaterbetrieb in Krefeld und Mönchengladbach verstehen.
Sehen Sie nicht die Gefahr, dass durch die Einschränkungen an unserer herausragenden bunten Theaterlandschaft, aber auch allgemein an unserer breitgefächerten Kultur irreparabler Schaden entstehen könnte?
Grosse: Die Gefährdungen sehe ich schon. Die sehe ich auch mit Sorge. Es wird sehr viel davon abhängen, welche Kommunikation vor Ort getroffen werden kann zwischen Theatern und ihren Trägern. Ich bin speziell, was uns betrifft, nicht so sorgenvoll unterwegs. Wir haben in der Krise einen engen Schulterschluss mit unseren Trägern geübt und hatten eine komplikationsfreie Kommunikation zu all den Fragen. Aber wie die Gesamtlandschaft, insbesondere die freie Szene, bewahrt und weiterentwickelt werden oder auch wiederaufgebaut werden könnte? Da habe ich die Befürchtung, dass es substanzielle Verluste geben wird.
Von neuer Normalität zu sprechen mag manchen leicht über die Lippen gehen. Doch ist es eine erstrebenswerte neue Normalität, wenn am Ende vielleicht der dauerhafte Verlust der eigentlichen Normalität der Kultur konstatiert werden muss?
Grosse: Jede neue Normalität, die unterm Strich einen Substanzverlust bedeutet, ist ein fadenscheiniges Feigenblatt. Natürlich stimmt auch immer, dass in einer Krise eine Chance steckt. Weil das über sich selbst Nachdenken, die Standortbestimmung, das Reflektieren neu geschärft wird. Aber wenn grundsätzlicher Konsens für bestimmte Dinge aus finanziellen oder strukturellen Gründen abhanden käme, dann werden wir eine Menge Verluste zu beklagen haben.
Mit „Alles Maskiert“, einer „Musikrevue aus Corona-Zeiten“ und „The Plague – Die Seuche“ setzt sich das Theater ganz unmittelbar mit der Corona-Krise auseinander. Reagiert sehr schnell auf aktuelle Lagen. Theater als Forum für aufkeimende Diskurse – ist das ein Ziel?
Grosse: Gerade im Bereich des Musiktheaters ist es nicht unbedingt üblich, auf zeitgenössische Vorfälle so schnell zu reagieren. Das ist dem Vaudeville-Charakter vom Genre her geschuldet. Da steckt eine Chance drin. Da es vor allem auch zur Verarbeitung beiträgt, gerade wenn es auch noch gelingt, es heiter und selbstironisch zu tun. Damit es eben nicht nur eine tragische Nabelschau ist – das ist mir ganz wichtig. Es erscheinen durch so ein Geschehnis wie Corona Dinge, die man geplant hat, plötzlich in einem ganz anderen Licht. Es ergeben sich in der Schwerpunktsetzung einer Inszenierung gewiss auch andere Aspekte als vorher. Wir müssen zunächst auch beobachten, was macht das alles mit der Gesellschaft.
Gibt es schon jetzt auffällige Veränderungen, die Sie erkennen?
Grosse: Es gibt eine Vielzahl von beängstigenden Strömungen und Tendenzen – diese Verschwörungstheorien. Der ganz anders interpretierte Freiheitsbegriff des Individuums und auch die Gefährdungen, die damit einhergehen. Man muss schauen, was gesellschaftlich damit passiert und gucken, wie man als Theater darauf reagieren kann. Möglichst aktuell.
Theater sind Spiegelbilder der Gesellschaft. Wie nehmen Sie die Stimmung in Ihrem Haus war? Gibt es auch dort verschiedene „Lager“, was die Einschätzung der Krise anbelangt?
Grosse: Klar spiegelt das Theater, die Belegschaft die Gesellschaft wider. Man kann es eher emotional beschreiben. Es gibt eine immens große Vorsicht im Alltag. Diese ist manchmal individuell auf einen selbst gerichtet, bei manchen ist sie auch gepaart mit Umsicht. Was bedeutet das, was ich tue, für den Anderen. Es gibt die Grundspannung: Wir möchten wieder ran, scharren mit den Hufen. Müssen aber zeitgleich vorsichtig sein, dass wir das, was wir erreichen, nicht sofort wieder kaputtmachen. Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, dass, wenn man in eine Lockerungsphase kommt, man ein behutsames Training des Umgangs miteinander an den Tag legt. Es braucht Vertrauen, und da sind wir auf einem guten Weg. Gute Kunst gelingt nur, wenn niemand gezwungen wird.
Werden sich die Veränderungen im Umgang miteinander auch in einer veränderten künstlerischen Ästhetik niederschlagen?
Grosse: Ich glaube schon, dass das passieren kann. Ich würde hier nicht nur über das Theater Krefeld Mönchengladbach reden. Die Möglichkeit, Theater jetzt unter anderen Spielregeln zu organisieren, wird zu anderen Ausdrucksformen führen. Beispielsweise viele Spielarten zum Thema der Vereinzelung. Wie drücke ich Sehnsucht aus unter diesen Bedingungen? Ob das am Ende revolutionär oder kreativ war, wird man sehen. Was nach Corona – wann immer das sein mag – sein wird? Man wird, auf unser Theater bezogen, auf das zurückkehren wollen und müssen, was den Stellenwert des Theaters ausgemacht hat. Man darf diese Monate aber nicht außen vor lassen. Es wird sicherlich eine neue Form der Mixtur geben.
Sollte es wegen Corona längerfristig keine Opernaufführungen oder Konzerte geben können, wie wir sie kannten, besteht nicht die Gefahr, dass so etwas wie Kontinuität verlorengeht? Vielleicht eine Tradition in Frage gestellt wird? Wie wollen Sie entgegenwirken?
Grosse: Es gibt einen kulturpolitischen und einen inhaltlichen Aspekt. Ich glaube schon, dass der genetische Code der Tradition immer wieder zu 100 Prozent abrufbar ist. Diese Tradition muss ohnehin so durchlässig sein, dass sie auch anderen Traditionen Raum lässt. Aber da Tradition nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers ist, glaube ich, dass diese Tradition in neuem Licht und in neuer Kraft wieder auferstehen wird und kann.
Und kulturpolitisch – könnte es nicht passieren, dass bestimmte aufwändige Dinge plötzlich zur Disposition stehen, weil man ja über längere Zeit es auch ohne hinbekommen hat?
Grosse: Wenn man weiter versteht, den Nerv der Besucher zu treffen, wird eine kulturpolitische Gefährdung gar nicht eintreten. Das ist meine Hoffnung, vor allem wenn ich an die Städte Krefeld und Mönchengladbach denke. Aus meinen bisherigen Erfahrungen glaube ich nicht, dass das Kulturleben in unseren Städten substanziell in Frage gestellt wird. Die Theater müssen im Dialog mit Politik bereit sein, eventuellen Sorgen der Politik offen zuzuhören. Alle wissen: Was einmal substanziell weg ist, kommt nicht wieder.
Sie haben jüngst Pläne für die Spielzeit 2020/21 vorgestellt. Doch es könnte dauern, bis Corona überwunden ist. Es ist denkbar, dass Sie den Spielplan nicht – oder nur eingeschränkt – umsetzen werden können.
Grosse: Es ist wichtig, nach außen zu transportieren, dass wir an dem, was wir wollen und was wir können, immer dran sind. Wir haben eine Pflicht. Immer auf dem Sprung zu sein, um zu schauen, was im Moment das absolut Mögliche ist. Und um das realisieren zu können, muss ich es auch bereithalten. Ich muss aber auch so flexibel sein, dass ich unter veränderten Bedingungen meiner Rolle als Theater der Stadt gerecht werden kann. Wenn ich keinen Spielplan präsentiere, manifestiere ich eine Perspektivlosigkeit – die gibt es aber nicht. Es gibt einen Plan B. Wir wissen, was wir nächste Spielzeit machen, wenn wir all’ das, was wir vorgestellt haben, nicht spielen können.
Es gibt die Ankündigung, dass die Theater nun ab Samstag, 30. Mai, wieder öffnen dürfen.
Grosse: Wir haben uns alle sehr stark gemacht dafür, dass es Rückkehrszenarien für den Kulturbetrieb gibt. Seit Montag, 11. Mai, darf wieder geprobt werden. Natürlich unter Corona-Bedingungen. Den ursprünglichen Spielplan bis Ende dieser Spielzeit können wir nicht umsetzen. Aber wir sind mit Hochdruck daran, für den Monat Juni einen Sonderspielplan aufzulegen. Wir versuchen, an den zur Verfügung stehenden Wochenenden in diesem Monat, bis die Schulferien anfangen, Corona-taugliche Angebote zu machen. Damit sich alle daran gewöhnen. Wir wollen mit unseren Besuchern üben, wie es ist, so einen Theaterabend zu organisieren, wie fühlt sich das an. Aber wir müssen auch auf der Bühne und hinter der Bühne üben. Welche Formate sind ohnehin schon Corona-konform, ohne dass wir es gewusst haben. Wo kann man aus dem Repertoire geschickt etwas zusammenbauen. Ein Sonderspielplan im Juni hilft uns, Dinge auszuprobieren und zu optimieren, damit man sich diese Arbeit nicht erst im September macht.