Tolstoj-Lesung: Der Dichter und das Mädchen

August Zirner und seine Frau lassen die Ehe von Leo und Sonja Tolstoj lebendig werden.

Krefeld. Als sie sich begegnen, ist er ein gestandener Dichter und sie ein junges Mädchen aus gutbürgerlicher Familie. Innerhalb weniger Wochen heiratet der 34-jährige Lew Nikolajewitsch Tolstoj die 18-jährige Sofja — und es beginnt eine der facettenreichsten Ehen der Weltliteratur. Sie dauert fast ein halbes Jahrhundert.

Die Höhen und Tiefen dieser Beziehung sind in Briefen und Tagebüchern ablesbar. Aus diesem Material hat die Dramaturgin Andrea Clemen eine szenische Lesung zusammengestellt. Mit August Zirner und seiner Frau Katalin Zsigmondy lässt ein prominentes Schauspielerpaar diese Texte in der Jüdischen Gemeinde lebendig werden.

„Ist das die Liebe oder nur das Verlangen nach Liebe?“, fragt sich der russische Dichter, bevor er seiner Angebeteten per Brief einen Heiratsantrag macht. Während sie ihn von Anfang an liebt, plagen ihn schon am Hochzeitstag Zweifel und Fluchtgedanken.

Trotzdem verlaufen die ersten Jahre, die sie auf Tolstojs Landgut verbringen, harmonisch. Das liegt nicht zuletzt an der leidenschaftlichen körperlichen Beziehung der beiden, die eine ständig wachsende Kinderschar nach sich zieht. 13 Sprösslinge bringt Sonja, wie ihr Mann sie in den Briefen zärtlich nennt, in den ersten drei Jahrzehnten zur Welt.

Tolstoj, der schwierige Künstler, kreist dagegen stets um das eigene Ich. Er fürchtet die „Sorge um Kinderpuder und Eingemachtes“, er hat Angst, vom Familienleben aufgefressen zu werden. Während er die Ruhe des Landlebens schätzt, sehnt sie sich nach dem Glanz der Großstadt.

Diese grundverschiedene Lebensauffassung führt immer wieder zu Konflikten, die im Alter den endgültigen Bruch bringen. Tolstoj flieht heimlich und stirbt auf der Reise, ohne sich mit seiner Frau versöhnt zu haben. Mit Sonjas letztem verzweifeltem Brief endet die 80-minütige Lesung.

Mit wenigen Gesten, aber mit Blicken und großem sprachlichen Ausdruck gelingt es Zirner und Zsigmondy, diese problematische Beziehung lebendig erscheinen zu lassen. Glaubhaft vollzieht Zsigmondy die Entwicklung vom verliebten jungen Mädchen zur verbitterten Frau, Zirner lässt in der Ichbezogenheit des Dichters eindrucksvoll die Verzweiflung über das eigene Leben durchschimmern. Viel Beifall.