Persönliche Einblicke in eine bewegte Vergangenheit
Zeitzeugin Eva Weyl spricht vor Schülern des Gymnasiums Horkesgath über ihre Erlebnisse im Konzentrationslager Westerbork.
Krefeld. „Ihr seid nicht verantwortlich für die deutsche Vergangenheit, aber ihr seid verantwortlich für die deutsche Zukunft. Also denkt mit eurem Herzen und diskriminiert nicht. Nur der Mensch zählt.“ Während des gesamten Vortrags von Eva Weyl ist es im Saal vollkommen still. Keiner der Schüler der Q2 des Gymnasiums Horkesgath quatscht, kichert oder rückt gelangweilt auf dem Stuhl herum. Alle Augen sind auf die 82-jährige niederländische Zeitzeugin gerichtet.
Eva Weyl hat das deutsche Konzentrationslager im niederländischen Westerbork überlebt. Sie und ihre Familie hatten mit 5000 weiteren Menschen mehr Glück als die 102 000 Juden, die 1942 von Westerbork abtransportiert und vergast wurden. Das gesamte Ausmaß der systematischen Tötung durch die Nazis konnte sie erst viele Jahre nach ihrer Befreiung begreifen. Als sie in das Lager kam, war sie gerade einmal sechs Jahre alt. „Wir waren Kinder, man hat uns geschützt. Wir haben nie eine Leiche gesehen“, berichtet Weyl.
Westerbork sei ein Ausnahmelager gewesen, mit „verhältnismäßig humaneren Bedingungen“. Zwar habe man in ungeheizten Baracken schlafen und unhygienische Sanitäranlagen benutzen müssen, aber die Menschen hätten genug zu Essen bekommen. Zudem sei niemand gefoltert worden und es habe sogar Unterhaltungsangebote und eine Schule gegeben — alles um die Menschen bei Laune zu halten, so Weyl. „Perfider schöner Schein“, weiß sie heute. Denn Westerbork war ein sogenanntes Durchgangslager, die nächste Haltestelle des von dort abfahrenden Zuges war die Gaskammer. Die einzige Aufgabe des Lagerkommandanten Albert Konrad Gemmeker sei es gewesen, für einen reibungslosen Abtransport von Gefangenen zu sorgen. Diese Aufgabe habe er „exzellent ausgeführt“, dank seiner Strategie des „schönen Scheins“, wie Weyl mehrfach traurig betont. „Es gab natürlich Gerüchte von Massentötungen, aber das wollte und konnte niemand glauben. So etwas hält man einfach nicht für möglich“, erzählt Weyl.
Auch wegen paradoxer Praktiken innerhalb des Lagers, hätte man nicht glauben können, dass der Zug in den sicheren Tod fährt. Teilweise seien Gefangene im Lagerkrankenhaus monatelang gesund gepflegt worden, nur um dann eine Woche später abtransportiert zu werden.
Nach dem Krieg sei Gemmeker vor Gericht gestellt worden — er hat jegliche Kenntnis einer Massentötung bestritten. Das Gegenteil konnte ihm nie nachgewiesen werden, weshalb seine Strafe gering ausfiel. Doch trotz allem was Weyls Familie widerfahren ist, hat sie keinen Hass auf ihn entwickelt. „Seit drei Jahren bin ich mit der Tochter von Gemmeker befreundet“, berichtet sie zur Verblüffung der Anwesenden. Ihre erste Liebe sei sogar der Sohn eines wichtigen Nazi-Funktionärs gewesen. „Die Kinder trifft doch keine Schuld“, betont sie immer wieder. Neben ihrer eigenen Familiengeschichte arbeitet Weyls Vortrag die Geschehnisse der NS-Zeit im Allgemeinen auf. Sie zeigt Bilder aus anderen Konzentrationslagern, Bilder von Leichen auf Anhängern und Bilder von Juden, die von einer Klasse beschimpft werden.
Zudem beschreibt sie die Chronologie vom Beginn der Juden-Diskriminierung, über die Pogromnacht, bis hin zur „Endlösung“, also der industriellen Massentötung. Seit nun mehr als zehn Jahren hält Weyl Vorträge dieser Art und klärt damit die junge Generation auf. Was die Schüler an diesem Dienstagvormittag innerhalb von knapp zwei Stunden hören und sehen, ist auf jeden Fall einprägender als jeder Text in einem Geschichtsbuch.