Risikopatienten „Isolation ist schlimmer als die Angst“

Krefeld · Rolanda Mueller und Heike Haus zählen zur sogenannten Risikogruppe. Für sie kann eine Corona-Infektion gefährlich werden.

Rolanda Mueller ist lungenkrank. Sie geht nur noch selten vor die Tür. Spazieren gehen ist aber wichtig für sie.

Foto: Andreas Bischof

Wenn Rolanda Mueller in der Öffentlichkeiten husten muss, reagieren ihre Mitmenschen prompt. Der derzeit vorgeschrieben Sicherheitsabstand wird noch vergrößert. Jeder weiß: Husten kann ein Zeichen für eine Corona-Infektion sein. „Das ist eine Situation, die ganz, ganz unangenehm für mich ist,“ sagt Mueller. Doch unvermeidbar. „Ich muss husten, sonst ersticke ich“, erklärt sie.

Die 57-Jährige hat die chronische Lungenerkrankung COPD. Ihre Atemwege sind dauerhaft verengt, es wird vermehrt Schleim produziert, der abgehustet werden muss. Durch ihre Vorerkrankung zählt sie zur Risikogruppe. Eine Infektion mit dem Coronavirus könnte ihr schwerer zu schaffen machen als gesunden Menschen. „Bei bestimmten Vorerkrankungen wie zum Beispiel bei Lungenproblematiken hat der Körper weniger Widerstandskraft. Deshalb werden diese Menschen bei einer Corona-Infektion von den Symptomen viel stärker in Mitleidenschaft gezogen“, erklärt Hans-Jürgen von Giesen, der Ärztliche Direktor des Krefelder Alexianer Krankenhauses und Leiter der Neurologie. Deshalb empfindet sie die Reaktionen auf ihr Husten auch doppelt schlimm. „Plötzlich werde ich zur Gefahrenquelle – obwohl ich mich besonders gut vor Ansteckung schützen muss,“ beschreibt Mueller.

Für Professor von Giesen ist der Begriff Risikogruppe allerdings schwierig: „Er suggeriert, dass gesunde Menschen sich in größerer Sicherheit wiegen können.“ Das Wort Zielgruppe sei passender und „würde sich nur auf die Personen beziehen, die ein erhöhtes Risiko für einen schwereren Verlauf von Covid-19 haben. Nicht generell ein erhöhtes Risiko zu erkranken“. Denn genau genommen gehörten Pflegekräfte, Verkäufer, Busfahrer und Erzieher auch zur Risikogruppe. Aufgrund der vielen sozialen Kontakte und der körperlichen Nähe sei die Wahrscheinlichkeit einer Infektion viel höher als bei anderen Berufsgruppen.

Heike Haus muss sich wie Rolanda Mueller derzeit besonders vor Ansteckung schützen. Sie leidet unter Multipler Sklerose (MS), einer Nervenerkrankung bei der die Hülle der Nervenbahnen zerstört wird. Verlauf und Schwere sind sehr unterschiedlich, ebenso die Symptome: von Sehstörungen bis hin zu Lähmungserscheinungen. „Auch bestimmte medikamentöse Therapien, die das Immunsystem schwächen, können das Risiko für schwere Verläufe bei Corona-Infektionen erhöhen. Beispielsweise bei chronischem Rheuma und MS,“ beschreibt Experte von Giesen. Die 59-Jährige betrifft das zwar nicht, weil sie bisher ohne Medikamente auskommt, „aber das Coronavirus kann mir trotzdem gefährlich werden, weil eine Infektion einen für MS typischen Krankheitsschub auslösen kann,“ erklärt sie. Ein sogenannter Schub kann zeitweise Krankheitssymptome auslösen oder verschlimmern. Darüber hinaus ist es möglich, dass sich der Allgemeinzustand langfristig verschlechtert.

Mueller versteht Ängste, rücksichtsloses Verhalten nicht

Panik? Mueller verneint. „Die zunehmende Isolation und Einschränkungen sind für mich schlimmer als die Angst vor einer Infektion.“ Auch Haus bleibt besonnen: „Den Mantel der Angst möchte ich mir nicht umhängen. Ich weiß, wie einen das hemmt.“ Die Erfahrung machte sie vor gut 15 Jahren, als bei ihr MS diagnostiziert wurde. Ein Schock, mit dem sie umgehen lernen musste. „Deshalb bewerte ich die derzeitige Situation ganz anders – obwohl ich sicher mehr Angst um meine Leben haben müsste als andere,“ erläutert die 59-Jährige. Sie nennt es Achtsamkeit.

Für Rolanda Mueller ist es aus der Sicht einer chronisch Kranken eine surreale Situation. „Einerseits kann ich verstehen, dass Menschen plötzlich panische Überlebensängste haben.“ Sie hält kurz inne und betont dann: „Andererseits ist das noch lange kein Grund, Desinfektionsmittel zu klauen – wie zum Beispiel in meiner Physiotherapie-Praxis geschehen.“ Die Rücksichtslosigkeit der Menschen regt sie auf. „Ich frage mich, wohin das noch führen soll?“ Sie hofft, dass die Menschen vernünftig sind und sich an die Beschränkungen in der Öffentlichkeit halten. Eine Ausgangssperre wäre für sie fatal. „Spazierengehen ist für mich ein therapeutischer Wert. Ohne Bewegung verschlechtert sich mein Zustand, ich kann weniger gut abhusten,“ sagt die 57-Jährige.

 Sie freut sich aber auch über die Solidarität durch die Krise. „Toll, wie viele junge Menschen sich engagieren und für andere Erledigungen machen.“ Sie selbst hat eine Pflegestufe, kann sich Hilfe einkaufen. Doch als Leiterin der Lungen-Selbsthilfegruppe Krefeld kennt sie auch die andere Seite. Einige der Mitglieder haben wenig soziale Kontakte und sind dankbar über das Engagement und die Hilfe, die angeboten wird. Die COPD-Patientin denkt dieser Tage auch oft über das große Ganze nach. „Diese Zeit bietet uns eine große Chance: Lehren aus ihr zu ziehen und nicht nur uns zu ändern, sondern ein Stück auch unsere Welt. Für mehr Zusammenhalt und Miteinander.“