Gastronomie Ein paar Teller Heimat
Krefeld. · Sayed Habibi betreibt das einzige afghanische Restaurant in Krefeld. Dabei hätte er es sich einfacher machen können.
Sayed Habibi ist angezogen wie einer, der Karriere machen will. Oder zumindest einen seriösen Eindruck. Habibi trägt ein weißes Hemd und eine dunkle Stoffhose. Doch er ist auch einer, der seinen vollen Namen in den Notizblock des Reporters schreibt — Sayed Ahmad Siar Habibi — das letzte Wort unterstreicht und sagt, Habibi sei sein Familienname, aber auch sein Rufname. Es bedeute „mein Schatz“, und ein Schatz wolle er bleiben. Als er erfährt, dass der Reporter ebenfalls noch nie Alkohol getrunken hat, hält er ihm die Faust hin.
Der 30-Jährige hat etwas getan, was noch keiner in Krefeld getan hat: Er hat ein afghanisches Restaurant eröffnet. Seit Januar kommen im „Kabul Haus“ Gerichte aus seiner Heimat auf den Tisch, die er vor sieben Jahren verlassen musste, weil das zwischen Iran und Pakistan liegende Land schon lange nicht mehr zur Ruhe gekommen ist. Vorher war in den Räumen an der Evertsstraße das vegane Restaurant „Liebevoll“ untergebracht. Habibi hätte es sich deutlich einfacher machen können. Er betreibt das Restaurant nicht aus Mangel an Alternativen, weil er sonst keinen anderen Job findet. Bald wird er seine Ausbildung als Elektroniker bei der Rheinbahn beendet haben. Sein Tag beginnt morgens um vier, erst Ausbildung, danach Restaurant. In Afghanistan hat er Kinderpsychologie studiert, aber das sei ihm hier nicht anerkannt worden. In Deutschland hat er Praktika bei einer Bank und in einem Altenheim gemacht. Erfahrung in der Gastronomie hat er vor allem hinter der Theke im „Oberbayern“ in der Düsseldorfer Altstadt gesammelt, ein Ort, der für einen Moslem wie Habibi so halal ist wie eine Schlachtfabrik von Tönnies. So gut sei er gewesen, dass der Betreiber ihn gar nicht mehr gehen lassen wollte, sagt er.
Was er von der afghanischen Küche weiß, weiß er von seiner Familie. Trotzdem hätte es näher gelegen, sich für eine sichere Nummer zu entscheiden. Eine Pizzeria oder einen Dönerimbiss, wie es andere Afghanen auch schon gemacht haben und wie es der kulinarisch nicht gerade als mutig bekannte Deutsche sowieso schon kennt. Aber gerade das war für ihn das Problem: Er sah überall nur Pizza und Döner und wollte den Leuten etwas anderes bieten, sagt er. Ihnen die Gastfreundlichkeit seiner Heimat näher bringen. Auch auf die Gefahr hin, dass sich die Leute nicht dafür interessieren, weil afghanische Küche, was soll denn das sein? Afghanische Restaurants gibt es in der Region kaum. Die nächsten stehen in Kaldenkirchen, Essen, Köln und Wuppertal. In Düsseldorf hat 2018 ein Imbiss aufgemacht. Ein Onkel gab ihm Geld, dann wagte er den Schritt zum Gastronom. Das Kochen übernahmen er oder seine Verwandten.
Es gibt in der afghanischen Küche vieles, das man noch nie probiert hat, aber wenig, das einem völlig fremd ist. Wer schon mal über einen Döner hinaus Türkisch essen war, den wird auch ein Besuch im „Kabul Haus“ nicht überfordern. Was für den Deutschen Currywurst mit Pommes, ist für den Afghanen Kabuli Palau – allerdings nur, was die Popularität betrifft. Kabuli Palau ist ein Reisgericht, dessen Zubereitung zwar nicht kompliziert ist, aber stundenlang dauert, weil der Reis erst quellen muss und später bei niedriger Temperatur gekocht wird. In den Reis kommen Lammfleisch, Brühe, Möhren, Rosinen, gehackte Mandeln, außerdem Gewürze wie Koriander, Kardamom und Garam Masala. Dazu wird in Habibis Restaurant eine Tomatensoße gereicht, die der Gast selbst über das Gericht gibt. Das Besondere ist, dass der Reis nicht getrennt zubereitet wird. So nimmt er den Geschmack der anderen Zutaten an. Den Reis importiert Habibi über London aus Afghanistan. Er bestellt ihn gleich tonnenweise.
Auf der Karte stehen auch Mantu, mit Hackfleisch gefüllte kleine Teigtaschen, die man in der türkischen Küche als Manti kennt und die Tortellini nicht unähnlich sind. Über die Teigtaschen wird Joghurt gegeben und eine Tomatensoße mit Kichererbsen. Mantu sind Handarbeit, deshalb werden sie in Afghanistan vor allem zu feierlichen Anlässen wie einer Hochzeit gegessen. Teigtaschen gehören auch in anderen Variationen zur afghanischen Küche, die frittierte und mit Kartoffeln gefüllte Version heißt Sambusa. Wer Auberginen bisher langweilig fand, sollte die gebratenen Auberginenspalten probieren. Nicht fehlen dürfen verschiedene Kebap-Gerichte. Das hat nichts mit Döner zu tun hat, sondern meint bloß gebratenes oder gegrilltes Fleisch. So ist Nargis Kebap eine Art Frikadelle, in der ein gekochtes Ei steckt. Wer Shor Nakhod bestellt, bekommt eine Suppe mit Kartoffeln und Kichererbsen, zu der man noch afghanisches Chutney geben kann. Das wird mit Pfeffer, Koriander, Peperoni, Tomaten und Ingwer zubereitet und sieht aus wie Pesto.
Habibi ist stolz auf die Speisen seiner Heimat, das ist spürbar
Zu den meisten Speisen wird Nan-Fladen gereicht, den man aus der indischen Küche kennt. Weil er mit Hefe zubereitet wird, ist er nicht ganz so flach, die Ränder ähneln denen auf einer Pizza. Habibi hat für die Fladen extra einen mit Gas betriebenen Rundofen angeschafft. Zum Nachtisch gibt es Ferni, eine mit Stärke oder Reismehl angedickte Milch, die mit Kardamom, Mandeln und Zucker zu einem Pudding eingekocht wird, aber weniger süß schmeckt als hierzulande. Während des Essens trinken Afghanen schwarzen oder grünen Tee, außerdem Dough, ein kaltes gesalzenes Joghurtgetränk mit Gurke und Minze. Alle Gerichte im „Kabul Haus“ sind halal. Schwein und Alkohol stehen nicht auf der Karte.
Wenn Habibi von afghanischem Essen erzählt, wenn er die verschiedenen Speisen erklärt, die er aus der Küche heranträgt, dann mit einem Stolz, als habe er die Gerichte selbst erfunden. Einmal in Fahrt gekommen spricht er darüber in den höchsten Tönen. Wie gesund das Essen sei! Kichererbsen für die Wirbelsäule! Lamm und Reis für Bodybuilder!
Doch der Mensch isst vor allem, was er kennt, und Afghanisch hat der Krefelder im Regelfall noch nie gegessen. Und sowieso geht er wegen Corona gerade eher seltener ins Restaurant. Deshalb findet man im „Kabul Haus“ locker einen Platz. In einer Ecke können sich die Gäste sogar auf Teppichen niederlassen und im Schneidersitz essen — so wie es die Afghanen traditionell machen. Alles eine Frage der Übung. Habibi sagt, wenn die Leute einmal kommen, dann kommen sie auch wieder. Er berichtet von Kunden, die ihm sagen, sie machten hier ihren „kleinen afghanischen Urlaub“. Aber sie müssten eben erst mal kommen. Die Nachbarn haben ein halbes Jahr gebraucht, um vorbeizuschauen. Habibi hofft, dass sich seine Gaststätte herumspricht als Alternative für die Mittagspause. Mitnehmen kann man das Essen auch oder sich gleich liefern lassen.
Habibi kennt schwierige Situationen. Er kennt noch viel schwierigere Situationen. Gefährliche. Dass er 2013 aus Afghanistan geflohen ist, hatte keine wirtschaftlichen Gründe. Sein Leben war in Gefahr, sagt er. Es ist nicht das erste Mal, dass er flüchtet, schon in seiner Kindheit musste er mehrfach mit der Familie rüber nach Pakistan, aber 2013 ist es anders. Eines Tages wird er angegriffen. Der Grund dafür darf hier nicht genannt werden. Mit der Hand zeigt er, wo ihn das Messer an der Seite traf. Lange liegt er im Krankenhaus. Danach macht er sich auf den Weg. Auf der Flucht habe er manchmal Blätter essen müssen, sagt er. „Ich war wie ein Tier.“ Man habe Hunde auf ihn gehetzt, er sei mehrfach im Gefängnis gewesen. Einfach, weil er Flüchtling ist. 2014 erreicht er Deutschland. Seine Familie folgt ihm erst mit der Zeit. Er hat auch in Deutschland Rassismus erlebt, doch er sagt: „Zwei Menschen sind schlecht, hundert gut.“ Die zwei versucht er zu ignorieren. Eine Mann half ihm besonders. Als dieser starb, habe er vor Trauer einen Monat nicht essen können, sagt Habibi.
Das Messer hat auch seinen Magen getroffen. Ganz verheilt ist das bis heute nicht. Habibi spürt es nach dem Essen, wenn die Luft nicht raus will. Er wird wohl nicht in sein Land zurückkehren können, viel zu gefährlich. Afghanistan, das ist nun seine Familie, das ist sein Restaurant. Andere mögen im „Kabul Haus“ einen Kurzurlaub machen. So wie er über das Essen spricht, ist das, was auf dem Teller liegt, ein Stück Heimat, das ihm niemand nehmen kann.